„Ein herausragender Grenzfall“

ANALYSE Der Grüne Jerzy Montag untersuchte den Fall des 2014 verstorbenen Topspitzels Thomas „Corelli“ R.: Der V-Mann war hoch dotiert, brach Gesetze und wurde an einem Szeneausstieg gehindert

■ 68, Rechtsanwalt, Grüner, bis 2013 im Bundestag. Seit letzten Oktober untersuchte er den Fall „Corelli“: Der frühere V-Mann des Bundesverfassungsschutzes stand im Verdacht der NSU-Nähe und starb im Frühjahr 2014 plötzlich an einem Zuckerschock.

taz: Herr Montag, Sie haben gerade dem Bundestag einen Bericht zu Thomas „Corelli“ R. vorgelegt. 18 Jahre war der Neonazi Spitzen-V-Mann des Bundesverfassungsschutzes. Was brachte er dem Staat?

Jerzy Montag: Corelli war sicherlich einer der V-Leute, die dem Verfassungsschutz am meisten Informationen zur Verfügung gestellt haben. Er hat über die Jahre unglaublich viel Material aus dem Bereich der rechtsextremistischen Musik, der Agitation im Internet oder der Freien Kameradschaften geliefert.

Corelli hat dafür auch gut kassiert: 300.000 Euro bekam er über die Jahre vom Verfassungsschutz. Waren seine Informationen das Geld wert?

Das zu bewerten obliegt mir als Sachverständiger nicht. Ich kann nur auf eines hinweisen: Es gibt Regeln, wonach aus der Tätigkeit eines V-Manns kein zweites Gehalt werden darf, um kein faktisches Angestelltenverhältnis zu schaffen. Wenn man dieses Kriterium anlegt, war Corelli sicherlich ein herausragender Grenzfall. Denn er hat über den Verfassungsschutz so viel verdient wie in seinem Beruf als Lederwarenhändler, rund 1.000 Euro im Monat, zum Teil erheblich mehr.

Corelli bekam auch Sonderprämien, etwa nachdem seine Computer beschlagnahmt wurden. Ist das noch gerechtfertigt?

Auch das ist eine politische Frage, die der Bundestag beantworten muss. Klar aber ist, dass ein Ahndungseffekt konterkariert wird, wenn der Verfassungsschutz in solchen Fällen finanziell einspringt.

Thomas R. wurde wegen Propagandadelikten verurteilt. Für den Verfassungsschutz war das kein Problem?

Der Verfassungsschutz hat Corelli wiederholt belehrt, er dürfe keine Straftaten begehen. Das sehe ich aber kritisch. Denn es muss allen Beteiligten klar gewesen sein, dass das nicht geht. Es ist inzwischen meine feste Überzeugung, dass es unmöglich ist, über lange Zeit Neonazi zu sein und keine Straftaten zu begehen. Ehrlicher wäre daher eine andere Belehrung der V-Leute: Wenn ihr Gesetze brecht, geht das auf eure Kappe, und ihr werdet dafür bestraft wie jeder andere auch. Der Staat hilft euch dabei nicht und darf es auch nicht.

Ein Rätsel bleibt bis heute: Corelli stand auf einer NSU-Kontaktliste, war in der rechten Szene bestens vernetzt – und will dennoch nichts von dem untergetauchten Trio mitbekommen haben. Ist das glaubhaft?

Ich konnte nur das untersuchen, was in den Unterlagen der Ämter stand. Und da gibt es keine konkreten Spuren, dass Corelli Kontakt zum NSU-Trio hatte. Eine gewisse Nähe zum Umfeld gab es schon, aber dass er über die Aktivitäten des Trios Bescheid wusste, dafür habe ich keinen Beleg.

Hatten Sie denn den Eindruck, dass Ihnen alle Akten vorlagen?

Ja. Ich bin Strafverteidiger, ich lese seit 35 Jahren Akten. Ich habe ein gutes Gespür dafür, wenn Akten unvollständig sind. Das habe ich im Fall Corelli an keiner Stelle bemerkt.

Bliebe die Variante, dass Corelli mehr wusste und es dem Amt nicht mitteilte …

Möglich ist es. Aber wir wissen davon nichts. Es ist müßig, zu spekulieren, wenn man dafür keinen Hinweis findet.

Welche Konsequenzen empfehlen Sie aus dem Fall Corelli?

Es gibt eine Komponente, die mich sehr, sehr beschäftigt hat: die menschliche. Corelli stammte aus einem Dorf in der ehemaligen DDR, hatte die Schule ohne Abschluss beendet. Mit 15 brachten ihn seine älteren Brüder ins rechtsradikale Milieu. Mit 17 ist er in eine der gefährlichsten Neonazi-Organisationen eingestiegen: die Nationalistische Front. In deren Zentrale hat er seinen 19. Geburtstag gefeiert. 180 Neonazis kamen, die Feier glitt ihm völlig aus der Hand. Die Zentrale wurde zerlegt – Fenster, Türen, alles. Am nächsten Tag nahm der Chef der Nationalistischen Front den 19-Jährigen zur Brust: Du zahlst mir das auf Heller und Pfennig zurück. Da ist Thomas R. zur Polizei gegangen und hat gesagt, ich packe über die Nationalistische Front aus, ich will raus aus dem rechten Milieu.

Auf das Gesuch wurde nicht reagiert. Stattdessen wurde Thomas R. V-Mann.

Heute würde man sagen: So einer muss doch an ein Aussteigerprogramm weitergeleitetet werden. Aber daran hat damals kein Mensch gedacht. Alle dachten nur: Wow, der ist der perfekte V-Mann. Und so wurde Corelli sein Leben lang, bis zu seinem Tod mit 39, im rechten Milieu gehalten. Das finde ich menschlich, sagen wir, suboptimal.

Wie kann man das verhindern?

Ich schlage vor, einen Vorrang für Aussteigerprogramme einzuführen. Erst an zweiter Stelle sollte der Gedanke an eine Anwerbung stehen. Zweitens sollte man niemanden unter 25 als V-Person beschäftigen, wenn man an anderer Stelle jungen Leuten auch zugesteht, in ihrer Entwicklung noch nicht gefestigt zu sein.

INTERVIEW: KONRAD LITSCHKO