Polens verlassene Kinder

Die Zahl der EU-Waisen steigt stetig an. Die Stiftung Europäisches Recht geht von 100.000 zurückgelassenen Kindern der Arbeitsmigranten aus. Sie leben bei Verwandten oder im Heim

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Alex steht allein auf dem Posener Flughafen. Die Hände tief in die Jackentaschen gestopft, sieht der 16-Jährige dem Flugzeug nach, das gerade abhebt. Drin sitzen beide Eltern. Alex winkt nicht einmal. Die Eltern würden ihn ohnehin nicht sehen. Sie fliegen zurück nach Amsterdam. Dort arbeiten sie seit gut einem Jahr. Alex dreht sich um und nimmt den Bus nach Hause. Er öffnet die Tür, hängt die Jacke an den Haken und macht sich Tee in der Küche. Noch zwei Jahre bis zum Abitur: Alex allein lebt zu Hause.

So wie Alexander Mackowiak geht es über 100.000 Kindern in Polen. Ihre Väter oder Mütter arbeiten im Ausland. Oft sind es auch beide. Dann bleiben die Kinder sich selbst überlassen, kommen bei Verwandten unter oder müssen ins Heim. Meist beruhigen die Eltern ihre Kinder: „In zwei, drei Monaten holen wir euch nach“ oder „In einem halben Jahr sind wir wieder da, spätestens zu Weihnachten“ und natürlich „Wir rufen an! Ganz bestimmt!“ Doch aus den guten Vorsätzen wird nur selten etwas. Die Monate ziehen ins Land, der Winter geht vorbei, der Sommer, der nächste Winter. Die Anrufe werden immer seltener. Schließlich bleiben sie ganz aus.

Alex sagt: „Das ist zu schaffen“, während die Mitschüler die Kamera auf ihn halten. „Sicher ist es manchmal schwer, wenn man nach der Schule nach Hause kommt, und es ist nie jemand da, mit dem man reden könnte. Aber man gewöhnt sich daran.“ Der Videofilm „Eurowaisen“ machte in Polen Furore. Nie zuvor diskutierten Politiker, Lehrer und Wissenschaftler so viel über die Auswirkungen der Arbeitsmigration auf das Familienleben der Polen. Die anfängliche Freude über die große Mobilität der Polen und die Millionen Euro, die sie Jahr für Jahr aus dem Ausland zurück nach Hause schicken, wich einer immer größeren Sorge. Denn nicht alle der knapp zwei Millionen Polen, die im europäischen Ausland arbeiten, kümmern sich um das weitere Wohl ihrer Kinder.

Die schlechten Nachrichten über die Eurowaisen häufen sich. Es gibt kaum noch Kindergärten und Schulen ohne vereinsamte und traumatisierte Kinder. Am meisten zu schaffen macht ihnen die Unsicherheit, ob die Eltern auch wirklich zurückkommen. In Krakau erhängte sich der 14-jährige Adam, weil nach dem Vater, der zehn Jahre zuvor nach London emigrierte, auch noch die Mutter nach England fuhr – gemeinsam mit dem neuen Lebenspartner. Im schlesischen Swidnica musste die Polizei fünf Kinder im Alter von drei bis dreizehn Jahren ins Waisenhaus bringen, weil die Mutter nach Dänemark gefahren war, um den Ehemann zu besuchen. Im zentralpolnischen Kalisz stieg die Kriminalitätsrate unter Jugendlichen immer stärker an. „Erst als ich die Eltern von acht auffälligen Jugendlichen einlud, wurde mir das Ausmaß des Problems bewusst“, berichtet der Polizist Roman Szelag. „Es kamen nur drei Eltern, die anderen waren Tanten, Onkel und Großeltern.“

Aufgeschreckt durch den Film „Eurowaisen“ und einige spektakuläre Einzelfälle, erforschte die Stiftung Europäisches Recht das Phänomen auf breiter Ebene. Allein schon die schiere Zahl der verlassenen Kinder ist gigantisch. Die knapp 6.000 Interviewer trafen auf rund 100.000 zurückgelassene Kinder. Besonders enttäuschend sei, so der Vorsitzende der Stiftung Piotr Bajohr, die Gleichgültigkeit der Politiker: „Statt den Familien und insbesondere den Kindern zu helfen, ziehen es die Staatsbeamten, Bürgermeister und Gemeindevorsteher vor, das Problem unter den Teppich zu kehren. Die Standardausrede laute: „Das Problem gibt es bei uns nicht.“