Ornette Coleman – aus dem Stegreif

Von Gewitter orchestriert, spielte Ornette Coleman am 1. Juli vergangenen Jahres im Schlosspark Neuhardenberg Michael Jacksons „Billie Jean“. Sein wehklagender Saxofonton schien die himmlischen Schleusen für den Popstar geöffnet zu haben. Er ruft auch die Widrigkeiten in Erinnerung, denen Coleman selbst ausgesetzt war.

Coleman, geboren am 9. März 1930, wächst in Forth Worth, Texas heran. Diese Zeit ist geprägt von Segregation und Armut. Mit 14 bringt er sich das Saxofonspiel und Notenlesen bei. Erste Erfahrungen sammelt er in lokalen R&B-Bands, die in Rotlichtbars für Unterhaltung sorgen sollen. Coleman wird die Blues-Erfahrung und den Willen, anderen mit Musik Vergnügen zu bereiten, nicht mehr ablegen. In Los Angeles werden sein Ton und die kühne Spielweise in den 1950er-Jahren immer eigenständiger, Vertreter des populären Jazzstils Hardbop aber ächten ihn. Zuvor hat niemand die Konventionen des Zusammenspiels derart unvoreingenommen hinterfragt. Coleman bricht Songstrukturen auf und denkt die Entwicklung einer Melodie vom individuellen Musiker her. Längerfristige Weggefährten werden der Schlagzeuger Ed Blackwell, der Trompeter Don Cherry und der Bassist Charlie Haden. Vier Alben mit zukunftsträchtigen Titeln wie „The Shape of Jazz to Come“ spielt Coleman ein, bevor er 1959 nach New York wechselt.

Dort heizt eine Aufnahmesession besonders heftige Diskussionen an. Heute lässt sich bei „Free Jazz“ hemmungslos über den Aufruhr spekulieren, den dieses Stück 1960 verursacht hat. Zwei Schlagzeuger, zwei Bassisten, zwei Trompeter, Coleman und sein Zeitgenosse Eric Dolphy auf dem Altsaxofon improvisieren unerhörte 36 Minuten lang „kollektiv“. Jeder Musiker agiert aus dem Stegreif heraus entlang eines präsenten Pulses und trägt die Kapriolen der anderen mit. Coleman spielt in den folgenden Jahren auch Geige und Trompete.

Für seine Verfahren findet er den Begriff „Harmolodics“, der ein Geflecht aus Harmonie, Bewegung und Melodie bezeichnet. Um seine Vorstellung von Orchesterklang zu verwirklichen, gründet er 1975 die Band Prime Time. Coleman arbeitet auch mit marokkanischen Musikern, mit Yoko Ono, Lou Reed, oder er spielt für den Soundtrack von Naked Lunch.

Sein Erfindungsgeist entlädt sich als „Sound Grammar“ in einer Konzertaufnahme, die 2006 als erstes Jazzalbum mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wird. Wunderbaren Tribut kann man der „Ornette Coleman Anthology“ (2007) der Berliner Musikerinnen Silke Eberhard und Aki Takase anhören sowie dem US-Saxofonisten Ken Vandermark, der mit „c.o.d.e.“ (2008) den Stücken von Coleman und Eric Dolphy nachspürt. Ohne Ornette Coleman ist die Experimentierlust im zeitgenössischen Jazz nicht vorstellbar. Neugierde und Mut zur Hingabe hat er sich bewahrt. FRANZISKA BUHRE

■ Zu Ornette Colemans 80. Geburtstag ist eine Sammlung von Interviews erschienen, die taz-Autor Christian Broecking mit ihm geführt hat: „Ornette Coleman. Klang der Freiheit“. Creative People Books, Berlin 2010, 124 Seiten, 19,90 €