Die Trauer stoppt an der Oder

Während in Slubice die Kneipen leer bleiben und das Volksfest abgesagt wurde, bekommen die Menschen in Frankfurt kaum mit, was jenseits der Oder passiert

Zumindest an der Europa-Universität Viadrina bestimmt die Lage im Nachbarland die Gespräche

VON ANJA SOKOLOW
UND CHRISTIAN LÜDORF

Der Himmel über dem polnischen Grenzstädtchen Slubice ist an diesem Morgen wolkenverhangen. Es regnet ununterbrochen. Die Straßen sind so gut wie leer – auch die bei Rauchern so beliebte „Zigarettenmeile“ gleich hinter der Grenze zu Frankfurt (Oder), wo sonst vorwiegend deutsche Besucher preiswert Stangenware erstehen. Nur wer wirklich muss, ist an diesem nasskalten Tag unterwegs. Doch nicht nur das Wetter sorgt für trübe Stimmung. Polen trauert. Die Flugzeugkatastrophe bei Smolensk am vergangenen Samstag prägt das Bild und durchzieht das gesamte Leben in der rund 17.000 Einwohner zählenden Stadt am Ostufer der Oder. Bereits der von der Kommune aufgestellte Schaukasten in der Fußgängerzone, in dem sonst ein Stadtplan den Weg weist, ist zum Gedenkort geworden. Hinter dem Glas hängen eine polnische Flagge mit Trauerflor und ein Bild des bei dem Unglück getöteten Präsidentenpaars. Am Fuße des Kastens: Grableuchten, Kerzen, Blumen.

Auf dem „Platz der Freundschaft“ im Zentrum hängen mit Trauerflor versehene Staatsflaggen schwermütig an den Masten. Auch einzelne Balkone der den Platz säumenden Wohnhäuser sind in den Landesfarben geschmückt. Das Rauschen des Springbrunnens ist an diesem Tag deutlicher vernehmbarer als sonst. Slubice ist heute still.

Aus den Geschäften, die sonst mit Musik um die Aufmerksamkeit der Kunden werben, dröhnen keine Bässe. Auch dort, wo es derzeit eigentlich richtig laut zugehen müsste, herrscht Ruhe: Die Bühne des Jahrmarkts auf dem „Platz der Helden“ ist leer. Die stillgelegten Karussells sind mit einem Absperrband gesichert – ausgerechnet in den Farben Rot und Weiß.

„Das Volksfest ist wegen der Trauer im Land abgesagt worden“, erklärt die Sprecherin der Stadtverwaltung, Irmina Balcerek-Malina. Ganz in Schwarz gekleidet sitzt sie in ihrem Büro. Die Menschen, teilweise auch aus dem benachbarten Frankfurt, kämen derzeit nur zu Gedenkveranstaltungen und Trauergottesdiensten zusammen. Nach ausgelassenen Feiern sei den wenigsten zumute.

Viele leere Seiten

Im Foyer des Rathauses, in dem Balcerek-Malina ihr Büro hat, liegt ein Kondolenzbuch aus. Daneben ein gerahmtes Bild der Kaczyńskis, ebenfalls mit Trauerflor versehen und flankiert von einem aufwändigen Blumenarrangement. Den Weg zum Kondolenzbuch hat bislang aber kaum jemand gefunden. „Schade, dass das Rathaus so weit ab vom Zentrum liegt“, bedauert Wachmann Krzysztof Nizinski. Da seien die vielen leeren Seiten nicht verwunderlich. „Betroffen sind jedoch die meisten von uns“, bekräftigt er.

Die Trauer hat auch die Presse und den Rundfunk Polens verändert. Im Radio dreht sich alles um die Ursachen und Folgen der Katastrophe, bei der neben Präsident Lech Kaczyński und seiner Frau Maria viele weitere hochrangige Politiker, Geistliche und Militärs sowie Vertreter von Wirtschaft und Opferverbänden starben.

Balladen im Radio

Klassische Musik und melancholische Balladen wechseln sich im Radio mit Nachrichten und Hintergrundbeiträgen ab. Schrille Popmusik und die typischen Tanzrhythmen des auch westlich der Oder bekannten „Disco Polo“ laufen derzeit nicht über den Äther. Die Titelseiten der Tageszeitungen kommen ohne viel Farbe aus. Manch ein Blatt erschien in den vergangenen Tagen mit Trauerflor. Auch das sonst rote Logo der Regionalzeitung Gazeta Lubuska ist in der Farbe der Trauer gehalten.

Das Fernsehen zeigt Bilder der Katastrophe in Schwarz-Weiß. Ein Apparat läuft auch im beliebten London Pub in der Einkaufsstraße, derzeit allerdings nur für die Angestellten. Selbst am späten Nachmittag, einer Zeit, zu der Baarkeeper Pawel Drzewicki normalerweise Feierabendbiere zapft, bleibt der Tresen leer. „Es kommen kaum noch Gäste, allenfalls der eine oder andere Deutsche, der sein Bier in aller Stille trinkt“, sagt Drzewicki. Der 23-Jährige hofft, dass die Stimmung nach dem Begräbnis des Präsidentenpaares am kommenden Sonntag auch bei seinen Landsleuten wieder besser wird.

Dass das Leben auch nach dem Unglück weitergehen wird und muss, weiß auch Zigarettenhändler Henryk Skawinski, der sein Geschäft in der Nähe des Basars – wie viele andere Händler auch – zum wochenendlichen Begräbnis im fernen Krakau schließen wird. Kunden sind bei ihm derzeit ohnehin rar. In diesen Tagen geht sogar der Bedarf an Tabakwaren zurück.

Die wenigen Deutschen, die trotz des inzwischen aufgeklarten Himmels den Weg über die Grenze finden, kommen, kaufen und verschwinden wieder. Die Trauer ist bei vielen von ihnen kein Thema, auch bei Ines und Ingo Markgraf aus dem zehn Kilometer entfernten Städtchen Lebus nicht. „Wir können das nicht beurteilen“, ist sich das Ehepaar einig. Die Flaggen in der Stadt sind Ingo Markgraf erst bei näherem Hinsehen aufgefallen. In Polen sei ja alles auch sonst so bunt. Beim preiswerten Tanken dominieren die Sorgen und Nöte der Polen nicht das Bewusstsein der beiden Brandenburger.

Auf deutscher Seite beschäftigt das Thema vorwiegend das offizielle Frankfurt. Vertreter aus Politik und Verwaltung sind bei allen Gottesdiensten und Trauerfeierlichkeiten in der Nachbarstadt präsent. Im Foyer des Frankfurter Rathauses liegt ein Kondolenzbuch aus. In der Dunkelheit sind das Buch und der bescheidene Blumenschmuck nur schwer auszumachen. Die Mitarbeiterin am Empfang stellt freundlicherweise das Licht an, damit einige Dutzend Einträge wie „Mit Mitgefühl“, „In tiefer Anteilnahme“ oder „Wir fühlen mit unseren polnischen Nachbarn“ erkennbar werden.

Es sei erst seit Dienstag öffentlich bekannt, dass das Buch ausliegt, erklärt Stadtsprecher Sven Henrik Häseker die noch relativ geringe Resonanz auf das Kondolenzbuch. Für die Polen sei die Situation schwierig. Das hätten auch viele Deutsche wahrgenommen. „Aber das mediale Echo der Katastrophe ist auf deutscher Seite schnell wieder verhallt“, sagt der Frankfurter, der bedauert, dass es keine grenzüberschreitenden Medien gibt. „Deshalb bekommen die Frankfurter auch kaum etwas davon mit, was jenseits der Stadtbrücke passiert.“ Das größte Problem sei aber auch 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Sprachbarriere zwischen den Bewohnern beider Orte, die noch bis 1945 eine Stadt bildeten.

Schweigeminute in der Uni

Zumindest an der Europa-Universität Viadrina, wo etwa jeder dritte Student aus Polen kommt, bestimmt die Lage im Nachbarland weiterhin die Gespräche zwischen Vorlesungen und Seminaren. An einem Tisch in der Cafeteria beschäftigt es auch die Jurastudentinnen Elise Uhlig und Karina Filusch. „Bei der Nachricht über den Flugzeugabsturz bin ich aus allen Wolken gefallen“, erzählt die 26-jährige Ostfriesin Uhlig in einem Ton unfreiwilliger Ironie. Mit dem so plötzlichen Verlust so vieler hochrangiger Politiker rechne man einfach nicht. „Regierungen haben normalerweise bis zur nächsten Wahl Bestand“, sagt die Studentin, die sich am Montag mit hunderten Kommilitonen, Mitarbeitern und dem Universitätspräsidenten Gunter Pleuger im Foyer des Gräfin-Dönhoff-Gebäudes zu einer Gedenkveranstaltung traf. „Zur Schweigeminute um 12 Uhr war das Foyer voller Menschen, obwohl es gerade Vorlesungen gab“, erinnert sie sich. „Plötzlich war es mucksmäuschenstill. Man hat gespürt, dass die meisten ehrlich betroffen waren.“

Auch an der Viadrina haben Studenten und Mitarbeiter die Möglichkeit, sich in Kondolenzlisten einzutragen. Das Internet scheint für die Studenten jedoch das Medium der Wahl zu sein, um das Unglück zu kommentieren. Bei Facebook werde heftig über die Katastrophe und das umstrittene Begräbnis KaczyńĽskis in der ehemaligen Königsresidenz, der Wawel-Burg in Krakau, diskutiert, erzählt die 23-jährige Karina Filusch. „Erst wurde Kaczyński gehasst, jetzt wegen seiner Vergangenheit in der Solidarność-Bewegung zum Helden erklärt und nun soll er auch noch neben den polnischen Königen beerdigt werden. Das ist absolut lächerlich“, bilanziert sie.

Die Ereignisse im Nachbarland spielen auch in den kommenden Tagen noch eine Rolle in der Uni. In der Reihe „Osteuropa-Kolloquium“ werde am Montag der oscarnominierte Film „Katyn“ (2007) des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda gezeigt, erklärt Referent Ingo Schuster. Gerade jetzt würden sich viele Studenten mit dem Thema befassen. Elise Uhlig und Karina Filusch wären froh, wenn sich auch viele Frankfurter Bürger stärker für ihre Nachbarn interessierten, denn noch sei die Universität eine Art Insel des deutsch-polnischen Zusammenlebens.