Keine Warnung an Allende

Der Militärputsch vor 25 Jahren gegen Salvador Allende und sein sozialistisches Chile hätte verhindert werden können. BND und Stasi wußten von den Putschplänen Pinochets. Hat der BND die brisante Nachricht der Regierung Brandt vorenthalten? Hat Allende den Tip der Stasi nicht ernstgenommen?  ■ Von John Goetz und Christiane Baumann

Als die Nachricht vom Pinochet- Putsch in Deutschland bekannt wird, gibt es beim Bundesnachrichtendienst (BND) in Pullach mindestens einen Mann, der bedrückt ist. Alfred Spuhler, Leutnant des BND, hat wenige Tage zuvor ein brisantes BND-Papier in die Hand bekommen, das genaue Angaben über einen bevorstehenden Militärputsch in Chile enthält. Spuhler, der damals schon für die DDR arbeitet, hat diese Nachricht auf schnellstem Wege an die Hauptabteilung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR weitergegeben.

„Ich war erzürnt, schockiert und irritiert, als ich von dem Putsch gehört habe. Wenn ich mir schon die Mühe machte, solch brisante Information so schnell wie möglich weiterzuleiten, wie konnte dann nur solch eine Panne passieren?“ erinnert sich Spuhler. Der Putsch als Panne. War Spuhlers Material nicht angekommen? Hatte es Allende zu spät erreicht?

Zweifel an seiner Tätigkeit beim BND kommen dem ehemaligen Berufssoldaten Spuhler Anfang der siebziger Jahre. An die allseits beschworene militärische Bedrohung durch den Osten kann er nicht glauben. Wer wie er den Stand der technologischen Ausrüstung beider Seiten kennt, wußte um die wachsende Überlegenheit westlicher Waffensysteme. Was Spuhler auch sieht, ist die mächtige Lobby der Rüstungsindustrie. Gegen das unglückselige Wettrüsten beginnt er für die Seite zu arbeiten, die aus seiner Sicht die gerechtere Gesellschaft anstrebt. In einem Brief an seine Familie – den er nach seiner Verhaftung 1990 schreibt – bezeichnet er sich als einen „friedlichen Revolutionär“. Seine Bedingung für die Zusammenarbeit mit dem MfS sei gewesen, daß Personen, die durch seine Arbeit enttarnt würden, keine physischen oder psychischen Torturen auszustehen hätten. Den Ausschlag dafür, dem MfS fortan BND-Informationen zu liefern, gibt wohl ein Dienstauftrag 1972 in Spanien, bei dem er mit Franco-Anhängern zusammenarbeiten muß. Alfred Spuhler gewinnt 1972 auch seinen älteren Bruder Ludwig für die Spionagearbeit. Ludwig Spuhler wird Kurier und Verbindungungsmann für die regelmäßigen Informationslieferungen aus dem BND. Sein Ansprechpartner Günter Böttger von der Hauptabteilung Aufklärung des MfS erwartet ihn zumeist in Österreich.

So auch Anfang September des Jahres 1973. Ludwig Spuhler überrascht seinen Kontaktpartner mit einem brisanten Dokument. „Dann kam Ludwig und sagte, ich habe aber diesmal was dabei, es ist ganz wichtig, es betrifft Chile, es betrifft einen Putsch“, erzählt Böttger. Und Ludwig Spuhler weiß noch heute: „Es stand datumsmäßig genau drin, daß die Regierung Allende beseitigt wird.“ Spuhler und sein Führungsoffizier sind sich nicht sicher, ob ihre gerade erst installierte Nachrichtenverbindung Wien-Ostberlin schnell genug sein würde. Nach der Übergabe in den Tiroler Bergen gelangt der Mikrofilm über einen toten Briefkasten in einer Telefonzelle auf dem Wiener Franz-Josef-Bahnhof in die Ostberliner Normannenstraße.

Dort weiß man um die exzellenten Verbindungen des BND nach Chile. Und so wird die Information als seriös angesehen und vorrangig behandelt. „Es war kein vages Gerücht. Wir mußten davon ausgehen, daß der BND in Chile direkt präsent war und Beziehungen vor allem zu Deutschen hatte, die nach dem Krieg in Chile waren und überdies Verbindungen zu Militärs in Chile hatte“, erinnert sich der damalige HVA-Chef Markus Wolf. Wolf ist sich absolut sicher, daß die Warnung von seinem Tisch über Parteikanäle nach Chile gelangte. Kommunistenchef Corvalan habe Allende direkt informiert.

Die Nachricht über den drohenden Putsch, die der BND erhalten hatte und Spuhler an das MfS weitergab, erreichte die Regierung Brandt jedoch nicht. Von einem beidseitig schlechtem Verhältnis zwischen Brandt und dem BND zu jener Zeit spricht der Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom. Zwar schien Willy Brandt mit seiner Wiederwahl zum Kanzler und der erfolgreichen Durchsetzung seiner Ostpolitik stabiler denn je. Im Geheimdienst herrschte jedoch generelles Mißtrauen gegen die sozialdemokratische Regierung. Obwohl unter Horst Ehmke ein struktureller Umbau des BND begann, hatten zu diesem Zeitpunkt immer noch Geheimdienstler das Sagen, die bereits in der „Organisation Gehlen“ dienten – dem Spionagenetz, das die Bundesrepublik von den Nazis übernommen hatte.

Hielt der BND die Nachricht von dem bevorstehenden Putsch bewußt zurück? „Der traditionell konservative BND hegte großes Mißtrauen gegen den Bundeskanzler. Ich gehe davon aus, daß wegen dieses Mißtrauens gegenüber der Regierung die Information zurückgehalten wurde, bis der Putsch vollendet war“, sagt Schmidt- Eenboom. Auch Egon Bahr, damals Kanzleramtschef, hält es für möglich, „daß der Apparat des BND [damals] immer noch durchsetzt gewesen ist mit Mitarbeitern, die sich besonders der CSU nahefühlten, und daß diese Information entweder aus Unwillen oder aus Überzeugung nicht weitergegeben wurde.“

In SPD-Kreisen gibt es Mutmaßungen über einen weiteren Grund, der den BND möglicherweise davon abhielt, die Putschinformation an Brandt weiterzuleiten: Schon im Mai signalisierte der Verfassungsschutz dem Innenministerium unter Hans-Dietrich Genscher (FDP), daß sich eine MfS-Quelle in Brandts unmittelbarer Nähe befinde. Ein Jahr später wurde die Guillaume-Affäre publik, der Kanzler trat zurück.

Die Nachricht, die im BND versackte und das MfS an Allende weiterleitete, sorgte in Chile jedoch für keine erkennbare Reaktion. Für Kundschafter Ludwig Spuhler kam die Nachricht vom Putsch überraschend. „Das Bittere war, wir haben es gewußt, bevor es drüben passiert ist, wir haben versucht, es zu verhindern, aber wir haben es letztendlich doch nicht geschafft“, sagt er.

Erst nach der Wende, im Strafprozeß gegen Markus Wolf, erfahren die Brüder Spuhler, warum ihre Warnung keine Wirkung hatte. „Das Tragische war, daß Allende es als unwahrscheinlich eingeschätzt hat, daß die chilenische Armee, die eine demokratische Tradition hatte, einen demokratisch gewählten Präsidenten stürzen würde“, sagt Wolf heute.

In der Tat hatte Chiles demokratischer Weg zum Sozialismus den Widerstand der bürgerlichen Opposition im Land geweckt – und den der USA. Die wollten um jeden Preis ein zweites Kuba verhindern. Vor 1970 und besonders nachdem sich der Wahlsieg abzeichnete, flossen Millionen von US-Dollar nach Chile, um eine Allende-Regierung zu verhindern. „Ich sehe nicht ein, warum wir einfach zuschauen sollen, wie ein Land kommunistisch wird, nur weil sein eigenes Volk unverantwortlich ist“, sagte US-Außenminister Henry Kissinger 1970.

Aus Furcht vor Enteignungen rettete das Großbürgertum nach Allendes Wahlsieg sich und sein Geld ins Ausland. Ein Boykott der westlichen Welt schwächte die ohnehin miserable Wirtschaft zusätzlich, Hilfeleistungen der Ostblock-Staaten hatten eher symbolischen Wert. Auch die Bundesrepublik verweigerte zunächst Hilfe. Der Grund: Chile hatte unter Allende schon 1971 die DDR anerkannt. Viele einflußreiche deutsche Industrielle hatten Grundbesitz in Chile erworben oder investiert. Nicht nur aus diesem Grund war das Engagement der CDU/ CSU gegen Allende besonders stark. Es gab enge Bande zu Deutschen, die nach dem Krieg nach Chile ausgewandert waren – eine Exilgemeinde mit nationalsozialistischer Vergangenheit wie insgesamt in Lateinamerika. So hatte etwa der damalige Botschafter der Bundesrepublik in Chile, Kurt Luedde-Neurath, eine Karriere als NSDAP-Mitglied und SA-Offizier hinter sich.

Nach dem Putsch waren denn auch genau jene deutschen Kapitaleigner in Chile des Lobes voll für die wiedererrungene Freiheit. Die CDU bedauerte offiziell den blutigen Umsturz, einzelne Mitglieder aber redeten die Situation im Lande schön. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Bruno Heck konnte nach einem Besuch bei Junta-Gefangenen im Nationalstadion nur feststellen, daß „das Leben im Stadion bei sonnigem Frühlingswetter recht angenehm“ sei. Als Leiter einer Delegation von CDU-Bundestagsabgeordneten äußerte Jürgen Wohlrabe sich im Januar 1974 positiv zu Eindrücken von der Häftlingsinsel Dawson. „... in humanitärer Hinsicht haben die Gefangenen keine Klagen gehabt“, zitierte ihn die Süddeutsche Zeitung. Heinrich Gewandt, einstmals schärfster Kritiker einer deutschen Entwicklungshilfe für Allendes Chile, konferierte nach dem Putsch mit Diktator Pinochet persönlich, um Investitionsmöglichkeiten für deutsche Banken zu erkunden.

Die SPD-Regierung, die noch Allende Kredite vertraglich zugesichert hatte, koppelte die Zahlungen an die Freilassung des ehemaligen Außenministers Allendes, Clodomiro Almeyda. Nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik wurde jedoch ihm und fünf weiteren chilenischen Exministern von der Landesregierung Baden- Württembergs unter Ministerpräsident Filbinger Asyl verweigert. Almeyda ging wie viele andere daraufhin in die DDR.

Zwanzig Tage nach dem Fall der Mauer zahlten die Brüder Spuhler den Preis für ihre Agententätigkeit. 1991 mußten beide für mehrere Jahre ins Gefängnis. Chile, inzwischen zur Demokratie zurückgekehrt, ehrte im Frühjahr seinen langjährigen Diktator Pinochet mit dem Titel eines Senators auf Lebenszeit. Pinochet genießt Immunität.

Der Text beruht auf einer Recherche für das ORB-Politmagazin Klartext.