Nostalgischer Aufbruch

Angst vor billigen Arbeitskräften aus Slowenien hat in Triest fast niemand. Nur die Rechte warnt vor slawischen Horden

aus Triest MICHAEL BRAUN

„Triest. Endstation, alles aussteigen.“ Triest, der tote Winkel Italiens: Hier ist immer Endstation. Kein Zug fährt weiter. Wie ausgestorben ist es auf den Bahnsteigen, nur eine Klasse auf Schulausflug sorgt für ein bisschen Leben. Draußen das gleiche Bild: Die mächtigen Hallen des Porto Vecchio, des Alten Hafens, sind vollkommen verwaist; nur die drei in der Bucht ankernden Tanker aus Abu Dhabi verraten, dass in Triest auch heute noch Fracht gelöscht wird.

Irgendwer hat hier die Zeit angehalten. Der Konsum mit der Inschrift „Cooperativa operaia“ aus den frühen Fünfzigern bietet die Modernität eines HO-Geschäfts – ansonsten aber dominiert Habsburg statt HO. Ob Apotheken, Buchläden, Drogerien oder die berühmten Kaffeehäuser – Ladenschilder und Interieur stammen oft genug aus dem zweiten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts; den Rest besorgen die barocken und klassizistischen Fassaden aus k. u. k. Zeiten. Triest, so scheint's, wurde von der Geschichte einfach vor ein paar Jahrzehnten vergessen.

„Ah, unter den Habsburgern, da ging's uns besser ...“ Die Verkäuferin im Konditorladen redet, als sei sie dabei gewesen, damals, „als James Joyce zu unseren Stammgästen gehörte“. Ihre Kunden tun's ihr gleich. Erster und Zweiter Weltkrieg, Tito und die Partisanen, die alliierte Militärregierung in der „Freien Stadt“ bis 1954 – das ganze Jahrhundert schnurrt zusammen, als habe es sich gestern abgespielt. Dabei ist keiner von ihnen älter als sechzig.

Für Auswärtige rätselhaft ist auch das Koordinatensystem: Der gleiche Herr, der eben noch voller Sentimentalität die Vielvölkermetropole im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn beschworen hat, redet im nächsten Atemzug der „italianità“ Triests das Wort.

Kein Wunder, dass Giuseppe dell'Acqua von der Städtischen Psychiatrie von Triest wie von einem Patienten spricht. Beim Spaziergang durchs Zentrum stellt er die Diagnose. „Nostalgische Depression“ ist sein Befund. Unser Weg führt vorbei an der mächtigen serbisch-, dann an der griechisch-orthodoxen Kirche, schließlich an der Synagoge, die davon künden, dass Triest mal kosmopolitisches Drehkreuz war. Die Straßennamen klären über die andere Seite der Stadtgeschichte auf. Lauter italienische Freiheitshelden, Märtyrer und Generäle des Ersten Weltkriegs sind da verewigt. Vom Drehkreuz zur Sackgasse: Am Ende, 1945, fand sich die Stadt direkt an der Grenze der Machtblöcke wieder. Ökonomisch lebte Triest nur noch von den Staatssubventionen; der Hafen, die Industrie wurden künstlich am Leben erhalten, sie waren nur noch pure Mythen.

Fünf Kilometer östlich begann Jugoslawien, Feindesland, das Italien Istrien abgenommen und zehntausende Italiener von dort wie auch aus Dalmatien vertrieben hatte. Dell’Aqua: „Weiche Identitäten waren da nicht mehr möglich, auch nicht gegenüber der slowenischen Minderheit, die ja immer schon in Triest lebte. Pro oder kontra – dazwischen gab es nichts.“ Aber die Wende zum Besseren sei schon eingetreten. Physisch greifbar sei der Aufbruch, sagt der Psychiater und weist auf die Gründerzeitbauten vor uns. In dem einen nisten hinter blinden Scheiben Tauben, die Gebäude links und rechts dagegen sind gerade aufwendig restauriert worden.

„Die Wende hat einen Namen: Riccardo Illy.“ Seit dieser 1993 Bürgermeister geworden sei, schaue die Stadt wieder nach vorn statt zurück, schaue sie auch über die Grenzen – sowohl über die nach Osten als auch über die unsichtbare Demarkationslinie, die im Innern zwischen Italienern und Slowenen errichtet worden sei. Und dann erzählt dell'Acqua noch, dass Illy schon bei seiner Wahl für eine Sensation gesorgt habe. „Als er vor dem Rathaus sprach, sagte er auf slowenisch Hvala lepa, vielen Dank. Eigentlich banal in einer Stadt, in der 10 Prozent Slowenen sind – aber in Triest war das bis damals undenkbar.“

Passender könnte der Platz nicht sein, den der Bürgermeister für das Treffen vorgeschlagen hat: das alte „Caffé Tommaseo“ mit Blick direkt auf den Hafen. Kaffeebaron Illy, der jetzt fürs Parlament kandidiert, trinkt Orangensaft, während er leise seine Visionen ausbreitet. „Raus aus der Belagerungsmentalität. Triest ist eine wirklich kosmopolitische Stadt, und das ist heute ihre Chance. Das Ende der Blockkonfrontation bietet uns die Gelegenheit, endlich wieder unser natürliches Hinterland zu erschließen, das unter den Habsburgern über Slowenien und Kroatien, Ungarn, Tschechien und die Slowakei bis nach Polen reichte.“ Illy setzt auf den Hafen und auf den so genannten Paneuropäischen Korridor fünf, der einmal per Schiene, Straße und Telekommunikationsnetz von Triest über Ljubljana und Budapest bis nach Kiew führen soll. Wie in Habsburgerzeiten wäre Triest dann wieder strategische Schnittstelle im Nord-Süd- wie im Ost-West-Verkehr.

Illy rechnet vor, dass der Niedergang gestoppt ist. Tausende Arbeitsplätze im Stahlwerk und in den Werften gingen verloren, nur 15 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in der Industrie – aber das sind jetzt nicht mehr subventionierte Staatsbetriebe, sondern Unternehmen mit „echten“ Investoren aus Finnland, Deutschland oder Taiwan. Jetzt gebe es nur noch 7 Prozent Arbeitslose, die Bevölkerung sei bei 215.000 stabil – und die große Zukunft Triests komme erst.

„Slowenien in der EU – das heißt, dass wir heute Grenzen sanft zum Verschwinden bringen können.“ Sorgen wegen der Einwanderung billiger slowenischer Arbeitskräfte? Illy lächelt: „Das Gespenst der Invasion geht hier nicht um“. Triest als Tor zum Osten, als Umschlagplatz, als Dienstleistungszentrum – das heißt für den Bürgermeister auch Beendigung der Konfrontation in der Stadt. Eigentlich sei Triest ein Musterbeispiel für Integration, für „bewahrende Integration“, wie er das nennt. „Keine Ghettos, aber auch keine totale Assimilierung. Die Slowenen, die Serben, die Griechen leben perfekt integriert und behalten doch ihre Kultur, ihre Sprache, ihre Religion bei.“ Deshalb sei das gerade verabschiedete Gesetz zum Schutz der slowenischen Minderheit wichtig: Die zweisprachige Beschilderung in den Grenzorten zum Beispiel wirke als Brücke, signalisiere den Besuchern, dass sie willkommen seien.

Mag sein, aber schon ein Ausflug ins nur wenige Kilometer entfernte slowenische Sežana ist ohne Pkw ziemlich beschwerlich. Mit einer uralten Zahnradbahn geht es den Berg rauf nach Opicina, dann mit dem Taxi – öffentliche Verkehrsmittel gibt es nicht – über die Grenze. Kleiner Grenzverkehr wie in längst vergangenen Zeiten: Italiener kommen mit Lebensmitteln. Der slowenische Junge auf dem Parkplatz erzählt in bestem Italienisch, dass er regelmäßig zum Shoppen nach Triest fährt. Hifi und Elektronik seien dort einfach günstiger.

Zurück per Autostop. „Slowenien wird auch ständig teurer, aber Fleisch krieg ich noch immer billiger“, erzählt die Frau am Steuer. Slowenien kann sie sich gut in der EU vorstellen – bloß dass es dann mit dem Fleisch zu Schnäppchenpreisen vorbei sei. Und das nagelneue zweisprachige Schild vor uns: Opicina – Opcine? „Finde ich in Ordnung“.

Ganz andrer Meinung ist Roberto Menia, Abgeordneter der rechten Alleanza Nazionale, der am Nachmittag seine Anhänger auf der Hafenmole in Triest zur Wahlkundgebung zusammengetrommelt hat. Für ihn ist Illy ein übler „Internationalist“, der das italienische Triest verraten hat. „Unglaublich: Bei der Neueröffnung des Teatro Rossetti lässt der erst einen katalanischen, dann einen slowenischen Dichter auf die Bühne, aber keinen Italiener!“ Der Applaus ist müde – selbst die Rechte lässt sich mit den Parolen von der „città italianissima“ nicht mehr aufrütteln. Also versucht man es mit Angstparolen. Der Illy sei doch überhaupt nur für Sloweniens EU-Beitritt, weil er dann noch mehr Espressotässchen exportieren könne, mokiert sich ein steinalter Politiker von der mit Berlusconis Forza Italia verbündeten „Lista per Trieste“. „Verräter“ sagt er nicht – wohl aber „Bürgermeister der Slowenen“, der das Tor für die „ethnische Infiltration der Slawen“ öffne.

Bojan Brezigar, Chefredakteur des Primorski Dvevnik – der slowenischen Tageszeitung von Triest – wundert sich nicht über solche Sprüche. „Aber mit ihrem „italianissimo“ stehen die Rechten mittlerweile im Abseits. Triest hat unter Illy wiederentdeckt, dass es eine multiethnische Stadt ist. Brezigar: „Vor ein paar Jahren noch brachten sie zehntausende für ihre nationalistischen Demos auf die Straße. Als Roberto Menia vor ein paar Wochen eine Kundgebung gegen das neue Minderheitengesetz abgehalten hat, waren nicht mal 150 Leute da“. Für den Slowenen ist dies ein gutes Zeichen. „In meinem Dorf Aurisina, 15 Kilometer von Triest, haben wir ein paar Alte, die hatten sechs verschiedene Pässe in ihrem Leben, obwohl sie sich nie vom Fleck bewegt haben. Erst Österreich, ab 1918 Italien, dann das von den Nazis annektierte ‚Adriatische Küstenland‘, nach dem Krieg ein paar Wochen Jugoslawien, dann das Freie Territorium Triest und schließlich wieder Italien.“ Doch nun ist das Jahrhundert der Kriege und Konfrontationen zu Ende gegangen.