Ein subtiles Spiel auf Leben und Tod

Jugend liest: Cornelia Funke liegt mit ihrem neuen Buch „Tintenherz“ vor Isabel Allende und Jostein Gaarder

Cornelia Funkes Buch „Tintenherz“ macht das Lesen selbst anrührend zum Thema

Das kann ich auch, und zwar viel besser, war das Erste, was ich gedacht habe, nachdem ich Madonnas sagenumwobenes und mit einer Riesenauflage in hunderten von Ländern der Welt gleichzeitig an den Start gegangenes Kinderbuch gelesen hatte. Eine blöde Reaktion, zugegeben. Aber ich stelle mir vor: Genau das hat Madonna in Bezug auf andere Kinderbücher auch gedacht, als sie beschloss, ihre Geschichte einem Verlag anzubieten.

Bloß ein Kinderbuch – so schwer kann das doch nicht sein. Ein Irrtum, wie man an ihrer hausbackenen Gardinenpredigt sieht. Natürlich habe ich trotzdem gleich zugegriffen. Dass ich mich damit in einer über hundert Länder verteilten Herde von Lesern befinde, hat etwas angenehm Gleichmacherisches und mindert den Kommunikationsstress ganz erheblich. Wie, du hast noch immer keine englischen Rosen auf deinem Balkon? Ein derart perfektes Opening für den Smalltalk wurde einem schon sehr lange nicht mehr serviert.

Überhaupt ist dieser Kinderbuchherbst entspannt, schließlich weiß man jetzt schon, was man im November und Dezember lesen wird. Nein, bloß keine Angst vor dem Massengeschmack und einer Startauflage von 13 Millionen. Harry Potter ist schon o. k. Erstens wegen des Smalltalks, zweitens, weil Joanne K. Rowling erstaunlicherweise das Niveau der vorigen Bände einigermaßen halten kann, und drittens, weil sie gerade die fiesen Seiten ihrer Figuren auszubauen versteht. Fragt sich nur, wie man die Zeit zwischen Madonnas „Englischen Rosen“ und dem neuen Harry-Potter-Band überbrückt. Die Buchläden jedenfalls garnieren ihre Schaufenster gerade mit den Stars der Szene: Isabel Allende, Jostein Gaarder und eben auch Cornelia Funke.

Cornelia Funke ist ja schon als deutsche Joanne K. Rowling bezeichnet worden. Dazu mag beitragen, dass Funkes Bücher inzwischen auch im angelsächsischen Raum erfolgreich sind, und ihr neues Buch „Tintenherz“ erscheint sogar gleichzeitig in Deutschland, England, USA, Kanada und Australien (siehe auch: Madonna).

Ihr englischer Verleger ist außerdem ausgerechnet jener Barry Cunningham, der wiederum auch Rowling entdeckt hat. Trotzdem hinkt der Vergleich. Wenn man Cornelia Funke denn schon unbedingt messen will, dann am ehesten mit Michael Ende. Seit seiner „Unendlichen Geschichte“ hat es kein Kinderbuch mehr gegeben, welches das Lesen selbst so anrührend zum Thema macht wie Funkes neuer Roman.

Leser, besonders wenn sie Kinder sind, kennen den Wunsch gut, in eine Geschichte hineinkriechen zu wollen – dieser Fährte ist Michael Ende gefolgt. Funke hat den Spieß umgedreht und lässt die Figuren aus den Büchern heraus ins wirkliche Leben treten. Eine böse, höchst ambivalente Sache, denn wie bei der „Unendlichen Geschichte“ ist das Reich der Fantasie nur an der Oberfläche verführerisch schön. Darunter ist es ein Spiel auf Leben und Tod.

„Tintenherz“ ist kein Heile-Welt-Buch und es ist in seinen vielen Verwicklungen auch nicht immer ganz einfach zu verstehen. Aber es ist so spannend, dass man die Herausforderung spielend annimmt, weil man nur weiter und weiter und weiter lesen will.

Und die Rivalen im Schaufenster, die Norwegerin Jostein Gaarder und die Chilenin Isabel Allende? Die sind hinter Funkes „Tintenherz“ denn doch abgeschlagen. Dabei muss man weder vor Gaarders „Orangenmädchen“ noch vor Allendes „Im Reich des Goldenen Drachen“ warnen: Gaarder hat ein freundliches, beschauliches Buch über die Liebe und das Glück zu leben geschrieben; Allende hat in die spirituelle Welt des Himmalaya ein Abenteuer voller Drachenräuber hineinfabuliert. Aber an „Sophies Welt“ oder den Erwachsenenroman „Das Geisterhaus“, welche einmal den Weltruhm dieser Autoren begründeten, kommen diese Bücher nicht heran. Cornelia Funke hingegen ist offenbar immer noch steigerungsfähig. Respekt, Respekt, kann man da nur sagen. ANGELIKA OHLAND

Cornelia Funke: „Tintenherz“. Dressler Verlag, Hamburg 2003, 576 Seiten, 19,90 €ĽJostein Gaarder: „Das Orangenmädchen“. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Hanser Verlag, München 2003, 188 Seiten, 13,90 €ĽIsabel Allende: „Im Reich des Goldenen Drachen“. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Hanser Verlag, München 2003, 300 Seiten, 16,90 €