Keine Zeit für niemand

Nicht das MoMA ist der Star, sondern Peter Raue, der es nach Berlin geholt hat: Eine schnelle Begegnung mit dem Vorsitzenden von Deutschlands elitärstem Kunstverein, dem es trotzdem vor allem darum geht, dass alle Spaß haben im Museum

VON HENNING KOBER

Seine Schritte klappern über den Gang. Die Tür zum Besprechungszimmer wird aufgerissen. In den schwarzen Ledersessel fällt Peter Raue. Professor, Doktor, 63 Jahre, Seniorpartner der Sozietät Hogan & Hartson Raue, Vorsitzender des Vereins der Freunde der Nationalgalerie und: Der Mann, der die MoMA-Ausstellung nach Berlin gebracht hat. „Schießen Sie los“, fordert er im Stakkato: „s-c-h-n-e-l-l.“

Peter Raue hat keine Zeit, es ist Freitagabend, auf dem Schreibtisch seiner Anwaltskanzlei, Adresse Potsdamer Platz 1, liegt noch Arbeit. Gleich muss er, nein will er zu einem Geburtstag, dann noch zu einer Ausstellungseröffnung. Zeit ist etwas, das Peter Raue nicht hat, nicht haben möchte. Tempo, Fragen will der Mann. Sein erstes Kunstwerk? „Schwer zu sagen.“ Die rechte Hand rast über den weißhaarigen Kopf. Auf Schwarzweißbildern lässt er ihn aussehen wie ein römischer Kaiser, auf Farbfotos wirkt Rau wie in einem unrestaurierten Ustinov-Film. Jetzt zieht er an seinem Lieblingsstück, der Fliege. „Doch“, fällt ihm plötzlich ein. Eine Arbeit des Bauhaus-Malers Josef Albers. „Da war ich, Moment, daskannichIhnenganzgenausagen, vierundzwanzig.“ Peter Raue klebt die Sätze so hastig zusammen, dass man später auf dem Band Anfang und Ende nur erahnen kann.

Routiniert und knapp erzählt er jetzt, was man aus anderen Interviews schon kennt: Peter Raue, der Kunstliebhaber von klein auf. Wie er sich als Teenager für den Faust begeistert, überhaupt die ganze Klassik. Dann – und deshalb mag man ihn sofort – kommt er zu Wichtigerem, Größerem. Auch Langeweile ist Zeitverschwendung. Das MoMA als Event, also bitte schön, „waren Sie schon dort?“ Die Schlange vor der Neuen Nationalgalerie, offenbar der Überfetisch dieser Schau, gehöre einfach dazu. „Das ist ein Dauerevent, eine Dauererektion sozusagen.“

Peter Raue hüstelt. Er kontrolliert jeden Tag, wie sie sich „schlängelt“, die Schlange – „statt Mittagessen“. In seinem Smart kämpft er sich durch das Verkehrsgewühl am Potsdamer Platz. Dann schaut er, „ob alle fröhlich“ sind. Alle. Na klar, „es ist mein Baby. Großes Baby“, sagt er unumwunden. Das MoMA ist der Star. Das MoMA in Berlin ist Peter Raue. Peter Raue ist allgegenwärtige, feste Koordinate der Kunstsociety. Ist er auf der Party, dem Empfang, der Eröffnung, wissen Bürger und Bürgerin, hier ist es richtig. Es geht der Spruch, eine Premiere ohne Peter Raue sei höchstens eine Voraufführung. Ein Tisch im Borchardts, der Paris Bar? Der Freundschaftsverweis auf Peter Raue soll Wunder tun. Und trotzdem: Raue ist nicht nur elitär, er ist auch ein Fan der Moderne, er verehrt Beuys und kennt jeden Satz von Thomas Bernhardt. Und der Glanz der Idee, dass jeder ein Star sein kann, auch der hat ihn schon immer begeistert.

Aufgewachsen in München, zieht Peter Raue im Sommer 1961 nach Berlin, Ulbricht ließ gerade die Mauer meißeln. „Da musst du einfach hin, hab ich mir gesagt. Man kann dieses Berlin doch nicht alleine lassen.“ Ein Opfer war dieser Umzug jedoch nicht, „Berlin hat sich sehr schnell als Stadt meines Lebens erwiesen“. Er studiert an der damals halb leeren FU Jura, Diepgen ist sein Kommilitone.

Heute ist Peter Raue ein renommierter Anwalt, Spezialität Urheberrecht, und seit 25 Jahren ist er der einzige Vorstand des Vereins Freunde der Nationalgalerie, Deutschlands mächtigstem Kunstverein. Er hat sich etabliert – und dennoch ist er so ehrlich zu sich selbst, freimütig das verpasste Feuerwerk seines Jugendtraums abzubrennen. Peter Raue wollte Schauspieler werden.

Er kommt ans Schauspielhaus nach Hamburg. Zufall nennt er es, „ich hatte sehr guten Zugang zu den Stars des Hauses“. Seinem großen Idol Gustaf Gründgens ist er, der den Faust auswendig kann, ganz nahe. Und dann hat er das Gefühl, „das schaffst du nicht“. Dieses Pathos, das damals in den großen Theaterschauspieler wohnte. Davor hatte er zu viel Respekt. In der Tünche des Lockeren erzählt er davon. „Mein Gedanke war, man heiratet die Geliebte nicht, sondern hat sie als Geliebte, so ist das bis heute und gut so.“

Wahrscheinlich hat Peter Raue mit dieser Einsicht für die Kunst mehr tun können, als er je auf der Bühne erreicht hätte. Ganz sicher weiß man es nicht. Er auch nicht. Unter dem Sessel verknoten sich seine Beine.

Kauft Peter Raue Kunst, allein seine Kanzlei schmücken über 600 Werke, überzeugen ihn Konsistenz und Glaubwürdigkeit der schaffenden Person. Sammeln will er, komplettieren will er nicht, das Prinzip der Lust soll gelten. „Ich bin ein Don Giovanni der Kunst, es muss immer Liebe sein.“

Dem „Verein der Freunde“, wie ihn alle nennen, steht er seit der Wiedergründung 1977 vor. Der erste, die Mitglieder überwiegend jüdisch, wurde von den Nazis zerstört. Litt das geteilte Berlin unter dem Verlust einer „Gesellschaft“, fand sie sich in diesem Verein wieder. Die exklusive Aura der Vereinigung spiegelt sich in Peter Raues Motto aus Gründungstagen: „Lieber hundert Mitglieder à tausend als tausend à hundert Mark.“ Er widerspricht dem Vorwurf, dass es dabei um Macht ging: „Absurd, nur ganz am Anfang waren wir etwas bauträgerlastig“, inzwischen gibt es über 150 Mitglieder unter 35, sogar Hausfrauen sind darunter. Und trotzdem liest sich die Mitgliederliste noch immer wie das Who is Who des alten Westberlins. Über hundert Werke im dreistelligen Millionenwert hat der Verein für die Nationalgalerie gekauft, immer wieder Spitzenausstellungen organisiert.

Peter Raue ist ein Missionar der Kunst, die, wie er findet, nicht zum Leben gehört, da bekommt er rote Flecken im Gesicht. Sondern, verdammt, „Kunst ist Leben, ist es nicht?“ Er möchte, dass so viel Menschen wie möglich vor dem Gemälde von Clyfford Still stehen und „plötzlich merken, dass sich in so kleinen Schlitzen eine neue Welt öffnet“. Wir sind am Ende. Peter Raue muss weiter.

Vor zehn Jahren hatte er schlimmen Krebs, die Chemotherapie rettete ihm das Leben. „Dankbar, glücklich“ hat er es überstanden, die Krankheit schenkte ihm „ein neues Gefühl“ fürs Leben. „Fast keinen Tag hab ich in den letzten zehn Jahren verloren.“ Man glaubt ihm aufs Wort. Weiter geht’s. Full Speed.