JENNI ZYLKA über PEST & CHOLERA
: Meine Bude gehört mir

Putzfrauen sind eine wunderbare Erfindung – mir und meinem Papiergebirge machen sie trotzdem Angst

Auf meinem Schreibtisch wächst ein Papiergebirge, das an der höchsten Stelle, ich hab es mit einem Lineal nachgemessen, 34,6 cm hoch ist. Wenn ich aus Versehen an eines der Schreibtischbeine komme, verrutscht diese Spitze, die Moränen verschieben sich, und ich muss ewig nach irgendwelchen wichtigen Infos suchen, die ich abgelegt hatte. Neulich saß ich abends drei Stunden an einer schwierigen Arbeit, und als ich zitternd und schwach vor Hunger gegen einen der Gipfel stieß, gab er eine schon lange verloren geglaubte Schokolade und eine Tüte zuckerfreie Hustenbonbons frei. Natürlich freute ich mich in dem Augenblick. Aber ich bin manchmal nicht mehr sicher, ob ich in diesem Zimmer wohne oder das Zeug.

Wobei Unordentlichkeit tatsächlich eine Krankheit der Neuzeit zu sein scheint: Früher hatten die Menschen nicht genug Platz dafür. Erst seit Quentin Crisp, der mal gesagt hat, nach vier Jahren ohne Putzen würde es nicht mehr dreckiger, wohnen die Menschen in voll gepackten Sammlerhöllen. Natürlich hat das auch etwas mit der Industrialisierung und diversen Revolutionen zu tun: Es hilft einem niemand mehr beim Saubermachen. Ich habe mal einen Brief gelesen, den Herman Melvilles Frau an ihre Stiefmutter geschrieben hat: „Wir frühstücken um acht Uhr, dann macht Herman einen Spaziergang und ich flitze hoch in seinen Raum und bereite alles vor, damit er sich sofort nach seiner Rückkehr an den Schreibtisch setzen kann.“ Wer weiß, was mir alles einfiele, wenn mir jemand jeden Morgen meinen Schreibtisch aufräumte!

An Melville musste ich gestern wieder denken, als ich in aller Herrgottsfrühe an einem noch geschlossenen Restaurant in Berlin-Kreuzberg vorbeikam, in dem Queequeg saß und mit einem Handy telefonierte. Bis auf das Handy sah er wirklich genauso aus wie der Harpunist aus „Moby Dick“: Glatter Schädel, der von einem schwarzen, ölig wirkenden Zopf gekrönt wurde, Tätowierungen im Gesicht, hagere Nase, wasserfeste Klamotten. Ich versteckte mich sofort – so gut es ging – hinter einem herbstlichen Baumgerippe, um ihn zu beobachten, und versuchte, von seinen Lippen abzulesen. „Queequeg hat guten Fisch“, verstand ich. „Queequeg jetzt zwei Stunden hier sitzen. Du kommen oder Queequeg nie wieder machen Geschäfte.“ Dann holte Queequeg einen Eimer und einen Wischmob hinter der Theke hervor und begann, den Boden zu wienern. Mit meinem Lippenlesen ist es eben doch nicht so weit her.

Für ein Restaurant finde ich es völlig normal, eine flinke Putzfrau oder einen Südsee-Insulaner für die Reinigung zu beschäftigen. Aber für einen reformorientierten Privathaushalt nach 1900? Viele meiner Bekannten sehen das anders: Meine Putzfrau hat sich ein kleines Häuschen in der Uckermark erputzt, erzählte mir eine Freundin. Und die Putzfrau einer anderen Bekannten ernährt ihre Familie und noch diverse Verwandte zweiten Grades. (Natürlich nicht in Deutschland.) Abgesehen davon habe ich selber jahrelang geputzt, Büros, Treppenhäuser, Privatwohnungen und Praxen, und das war mir immer noch 1000-mal lieber als der verhasste Studentenjob „Wagenschieber“ (auf Einkaufszentrums-Parkplätzen Einkaufswagen ineinander keilen und zur Einkaufswagensammelstelle schieben, bis der Rücken durchbricht).

Trotzdem schäme ich mich bei dem Gedanken, meine Wohnung so wenig in Schuss halten zu können, dass ich jemand Fremden dafür engagieren muss. Sollte man nicht lieber in eine kleinere Bude ziehen oder weniger arbeiten, wenn man das normale Pensum nicht mehr schafft? Außerdem habe ich furchtbare Angst davor, dass die Putzfrau zum Beispiel die Schokolade finden und denken könnte, ich wolle damit ihre Ehrlichkeit testen. Und drittens: Was macht man als Heimarbeiterin, wenn die Putzfrau kommt? Spazieren gehen? Mit weißen Handschuhen hinter ihr her spionieren und testen, ob auch auf den Fußleisten Staub gewischt wurde? Brrr, nein danke. Quentin Crisp und ich sind dreckresistent, und außerdem ist Staub gut für das Immunsystem.

Fotohinweise: JENNI ZYLKA PEST & CHOLERA Fragen zur Ordnung? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler ZEITSCHLEIFE