Mein eigener privater Unglaube

Ohne Bekenntnis geht es in Glaubensdingen nicht.Dies mussten auch Agnostikerund Atheisten erfahren

VON DIRK KNIPPHALS

Manchmal habe auch ich so ein transzendentes Gefühl. Bevorzugt des Nachts am Meer. Die unendlichen Weiten vor mir, den hohen Sternenhimmel über mir und in mir eine Art ozeanischen Sinn, der auf diese Unendlichkeiten anzuspringen scheint. Da gibt es dann ein universales Staunen zu registrieren. Das sind die Momente, in denen ich verstehe, dass andere Menschen gläubig sind. Aber viele gläubige Menschen sind geübt darin, aus solchen transzendenten Gefühlen fix einen Hinweis auf die Existenz Gottes zu basteln. Und das ist der Punkt, an dem mein Verständnis schon wieder an Grenzen stößt.

Aber Moment, klingt dieser Texteinstieg nicht zu privatistisch? Ich finde, es geht nicht anders. Menschen, die die Glaubensfrage nur abstrakt und im Allgemeinen abhandeln, kann ich nicht ernst nehmen. Das ist dann zwar oft interessant. Wie ein Sprechen über, sagen wir, die neue Castorf-Inszenierung, das Debattenfeuilleton oder die Aussichten von Rot-Grün bei der Bundestagswahl. Aber was hat das mit meinem Unglauben, mit deinem Glauben zu tun?

An den Kern dieses Themas kommt man nur, wenn man sich selbst auf den Grund geht. Objektivierend kann man zwar Hinweise in die eine oder die andere Richtung sammeln, man kann die Schöpfung preisen oder im Gegenteil angesichts von Kriegen und Naturkatastrophen metaphysisch verzweifeln, man kann die karitativen Wirkungen der Kirche loben oder über fette Popen wettern – ob man glaubt oder nicht, ist aber immer noch eine ganz andere Frage. Ohne individuelles Bekenntnis kommt man dabei nicht aus.

Jaha, werden jetzt viele denken, da haben sich wie von selbst religiöse Einflüsse bloßgelegt. Gewissensprüfung, Bekenntnis: Ist das nicht alles christlich geprägt? Nein, antworte ich. Das, was gern christliche Wurzeln genannt wird, sind in Wirklichkeit Anverwandlungen aus anderen Traditionen, etwa der Stoa. Und das mit der Ich-Erforschung haben die Agnostiker, Atheisten, Polytheisten und Pragmatiker aller Gesellschaften und Zeitalter oft ganz genauso gemacht.

Es geht gar nicht anders. Dass wir Glauben für eine Privatsache halten, ist nicht einfach ein Zugeständnis der Religion, das die Gesellschaft von ihr abfordert, weil wir einen säkularen Staat haben wollen. Es ist auch die Konsequenz aus dem Zusammenbruch aller Gottesbeweise und objektiven Glaubensbegründungen. Es hat sich eben nichts als schlüssig erwiesen, trotz reichhaltiger Bemühungen kluger Autoren. Andere Menschen werden andere philosophische Prunkzitate haben, mit denen sie diese Behauptung illustrieren; ich verweise immer gern auf den einfachen Gedanken aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“, nach dem es keinen Weg gibt, aus hundert gedachten Talern hundert reale Taler zu machen. „Sein ist kein reales Prädikat“, heißt es bei Kant, was schlicht bedeutet, dass man sich zwar viel denken kann – auch einen Gott –, über die Existenz Gottes sagt das aber gar nichts.

Seitdem dieser Gedanke durchgedrungen ist, und das ist er sowohl philosophisch als auch im Alltagsverständnis, hat jede Gottesbeweiserei ihre Kraft verloren. Im Übrigen aber auch jede Negierung Gottes. Atheistischer Furor kann genauso allein subjektiv begründet werden wie religiöser Eifer. Ob Gott existiert oder nicht, können wir nicht wissen. Das ist Sache des Glaubens. Ob aber jemand glaubt oder nicht, kann nur er selbst wissen. Das – und nicht etwa irgendwelche Toleranzforderungen – ist im Kern der Grund, weshalb Religion Privatsache geworden ist.

Allerdings ist es aus dieser Überlegung heraus offensichtlich ganz gut, dass wir in unserer Gesellschaftstheorie denjenigen philosophischen Traditionen folgen, die den Staat nicht religiös, sondern mit dem wohlverstandenen Eigeninteresse seiner Mitglieder legitimieren. Selbst eine Gesellschaft, die nur aus Gläubigen besteht, tut gut daran, ihren Staat nicht auf den Glauben zu gründen. Das ist schlicht zu ungesichertes Terrain. Es funktioniert in der Praxis auch gar nicht. Gottesstaaten benötigen charismatische Führer, und spätestens bei deren Tod kommt es zu Nachfolgeproblemen. Die liberale Tradition, Gott außen vor zu lassen und stattdessen die Interessen der Gesellschaftsmitglieder so gut es eben geht auszubalancieren, klappt einfach besser.

Insofern reagiere ich bei der Renaissance der Religion, von der gegenwärtig zu hören ist, skeptisch. Vor allem Jürgen Habermas scheint bei gläubigen Menschen Hoffnungen zu wecken, sie würden an der Wertefront wieder gebraucht. Während er in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ noch klar gemacht hat, dass eine moderne Gesellschaft ihre Legitimität allein aus sich selbst schöpfen muss, reicht ihm das nun nicht mehr. Er scheint sich einem Denken anzunähern, nach dem die moderne Gesellschaft Voraussetzungen braucht, die sie selbst nicht bereitstellen kann: Werte, geteilte Traditionen, gemeinsame Sinnressourcen.

Aber! Wer entscheidet denn darüber, welche Traditionen wir noch brauchen und welche nicht? Wer sagt, was sinnvoll ist, was nicht? Letzten Endes sind das politische Fragen, bei deren Beantwortung man sich nicht vom Glauben leiten lassen sollte, was im Ernst auch niemand mehr tut. Selbst beim sonntäglichen Einkaufsverbot argumentiert die Kirche inzwischen lieber mit klugen Lebensregeln (mal Ruhe vom Konsumstress) als mit Gottes Gebot. Außerdem: Selbst wenn es ohne einen Gott nicht ginge, folgt daraus noch lange nicht, dass es tatsächlich einen Gott gibt. Siehe Kant. „Die profane Moderne“, hat der Philosoph Herbert Schnädelbach in einem klaren, schönen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vor einigen Monaten gesagt, „ist unser Schicksal. Wir leben jenseits des Christentums.“ Die vermeintliche intellektuelle Renaissance der Religion kann ich nur als einen Fluchtversuch vor dieser Tatsache werten.

Zumal es sich, bei Licht besehen, doch gut lebt, jenseits des Christentums. Man braucht, um das festzustellen, gar nicht darauf zu verweisen, dass mittlerweile selbst eingefleischte Christen froh darüber sind, dass etwa die christliche Sexualmoral bei der Kindererziehung keine Rolle mehr spielt. Und auch nicht darauf, dass die Idee von der Gleichheit aller Menschen – Achtung, Werte! – älter ist als die christliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit. Man braucht nur festzustellen, dass zwar nicht mehr unsere Gesellschaft, wohl aber noch die Neigung zu Untergangsszenarios deutlich christlich geprägt ist.

Es ist christliches Denken, vom Rückgang christlicher Bestattungsrituale auf Lieblosigkeit und Herkunftsvergessenheit der Menschen zu schließen. Wer religiös unverbildet ist, wird angesichts dieser Phänomene eher das Aufkommen einer neuen, nicht mehr christlich dominierten Begräbniskultur entdecken. Und genauso ist es christlich gedacht, unter Verweis auf die Scheidungsraten immer wieder einen Verfall des Sozialen zu konstatieren. Dass sich die sozialen Beziehungen inzwischen oft netzwerkartig organisieren, gerät dann aus dem Blick. Insgesamt herrscht in unserer Gesellschaft längst ein fröhlicher Polytheismus und pragmatischer Umgang mit der Religion. Bei der Hochzeit bedient man sich wieder christlicher Rituale, aber leitet daraus keine großen Folgerungen für den Ehealltag ab, bei der Wellness lässt man sich buddhistisch oder hinduistisch inspirieren. Vor dem Papst hat man Respekt, trotz oder wegen seines Konservatismus. Und bei Menschen, die noch gegen den Kirchentag anpöbeln, wittert man fehlgelaufene frühkindliche Prägungen, etwa Klostererziehung. Aber man muss schon ein arger Bußprediger sein, um all das für schändlich zu halten.

Es ist zwar weithin geübte christliche Praxis, Nichtglauben als Gottbedürftigkeit und Gottsuche zu interpretieren, aber mir scheint, da konstruieren sich die Gläubigen die ungläubigen Menschen zurecht, wie sie sie gerne haben wollen. In Wirklichkeit sind Letztere viel pragmatischer, als die Kirche es sich vorstellen kann. Auch in dieser Hinsicht, denke ich, kommt man ohne Ich-Perspektive nicht aus: Ich jedenfalls hatte in meiner intellektuellen Entwicklung eine Phase, in der ich angesichts der ungesicherten Stellung des Menschen im Kosmos vor einer transzendentalen Obdachlosigkeit geradezu erschauert bin. Aber das war nur eine Phase, und man muss ja irgendwie weiterkommen mit seinem Leben. Und man kommt durchaus gut zurecht, wenn man die Glaubensfrage eher tiefer hängt.

Es gibt eine viel drängendere Frage, die sich allerdings nicht die Ungläubigen, sondern die Gläubigen stellen sollten. Ich stelle sie stellvertretend für sie: Werdet ihr Gläubigen, falls es zum Schwur kommt, den Unglauben verteidigen mit allem, was damit zusammenhängt wie Blasphemie, Konsumismus, Proll-Gameshows, Computerspielen und Wertelosigkeit? – Wie hältst du es mit dem Unglauben und Ungläubigen wie mir? Angesichts der aktuellen fundamentalistischen Entwicklungen könnte das die viel schwerwiegendere Gretchenfrage werden.