Radieschen ernten in Detroit

AUS DETROIT HEIKE HAARHOFF

Sogar dem FBI fiel es schwer, Grace Lee Boggs einzuordnen. Es müsse sich um eine „Afrochinesin“ handeln, vermerkte ein Agent in einer Akte aus den 50er-Jahren über die Philosophin und Bürgerrechtsaktivistin, auch wenn sie „nicht wirklich“ danach aussehe. Aber irgendeinen triftigen Grund müsse es schließlich geben, dass eine „Orientalin“, wie US-Bürger chinesischer Abstammung damals von den Behörden bezeichnet wurden, eine promovierte Philosophin dazu, freiwillig aus der Metropole New York in die Motorcity Detroit gezogen war, dort einen ungelernten schwarzen Fließbandarbeiter von Chrysler geheiratet hatte und nun revolutionäre Pamphlete „für eine von Schwarzen geführte US-Regierung“ verbreitete, die das FBI als „trotzkistisch“ einstufte.

3061 Field Street, Detroit, Michigan. Grace Lee Boggs’ Haus fällt schon von Weitem auf. Nicht wegen seiner Architektur: Es ist ein freistehendes, zweistöckiges Gebäude im viktorianischen Stil, mit kleinem Vorgarten und ein paar Stufen zur Haustür. Es stammt aus der gleichen Epoche wie alle Häuser in der schnurgeraden, mehrere Meilen langen Field Street im Osten der einstigen Industriestadt Detroit. Aber im Unterschied zu den meisten hat es Fensterscheiben statt zugenagelter schwarzer Löcher, ein ziegelgedecktes Dach statt blauer Plane gegen den Regen, eine gestrichene Fassade statt ausgebrannter Mauern und im Vorgarten Blumen statt Bauschutt, Tapetenfetzen, Autowracks, Spritzen und zertrümmerter Toilettenschüsseln. Ihr Haus ist eines der wenigen, das nicht aussieht wie eine Kombination aus Bürgerkrieg, Plünderung, Crack und Verwahrlosung. Denn ihr Haus ist eines der wenigen, das noch bewohnt ist: Von Grace Lee Boggs, 90 Jahre, allein lebend. Ihr Mann, Jimmy Boggs, ist vor zwölf Jahren gestorben.

Kartoffeln und Pferde

Sie empfängt in ihrer Sitzecke im Wohnzimmer, die sich wie eine schmale Schneise ausnimmt in einem Dschungel aus Büchern, Schriften, Enzyklopädien und Videos: Eine kräftige alte Dame, ungeschminkt und mit kurzem, dichtem weißen Haar, einer tiefen Stimme und einer erstaunlich geraden Körperhaltung. Sie lächelt, ihre Antwort kommt der Frage zuvor: „Sie wären nicht die Erste, die nicht versteht, weshalb ich hier immer noch leben möchte.“ Weshalb sie glaubt, dass Detroit, diese Geisterstadt, einst zwei Millionen Einwohner, heute knapp 900.000, Tendenz sinkend, eine lebendige Zukunft haben kann. Weshalb sie unermüdlich zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Universitäten und auf Versammlungen redet wie eine Predigerin, dass es „am Ende des Industriezeitalters eine neue Beziehung zwischen Stadt und Land geben muss“.

Auf ihre Initiative hin sprießen mitten in der Innenstadt aus Brachen bereits Radieschen und Kartoffeln, grasen neben Ruinen, in denen einst Autos zusammengeschraubt wurden, Pferde, wird jeden Sommer, im von Grace Lee Boggs ausgerufenen „Detroit Summer“, weiteres verlassenes Gelände erschlossen, urbar gemacht und bepflanzt, dieses Jahr zum vierzehnten Mal. „Ich selbst hasse Gartenarbeit“, sagt sie, „aber von welcher Arbeit sonst sollen wir leben?“

Natürlich hätte sie es längst ihren ehemaligen Nachbarn gleichtun und in einen der prosperierenden Vororte Detroits ziehen können. Dorthin, wo die Mittelschicht jetzt lebt. Wo es Arbeit gibt, gute Schulen, gute Nachbarschaften, gute Einkaufsmöglichkeiten, gute Freizeitangebote für ältere Menschen, weniger Gewalt und weniger Drogen. Alles, was Detroit nicht hat. Nicht mehr hat, muss man fairerweise sagen, denn die Stadt am Eriesee, der die USA von Kanada trennt, war einst wohlhabend. Henry Ford produzierte hier sein Modell T und zahlte seinen Arbeitern so hohe Löhne, dass sich jeder von ihnen ein Auto leisten konnte.

Dann kam der Zweite Weltkrieg, und die Detroiter produzierten Kriegsgerät, und weil sie das allein nicht schafften, holten sie Schwarze aus den Südstaaten in ihre Fabriken. Es kam einer Revolution gleich, denn wo hatte es das schon gegeben, dass Weiße und Schwarze zusammen am Band stehen? Es war die Zeit, in der sich auch Grace Lee, wie sie damals noch hieß, für Detroit zu interessieren begann. Sie, die Tochter chinesischer Einwanderer, die Mutter Analphabetin, der Vater Restaurantbesitzer, geboren 1915 in Providence, Rhode Island, aufgewachsen in New York City, hatte sich über viele Jahre ins Philosophiestudium über Kant und Hegel geflüchtet, auf der Suche nach sich selbst, einerseits, und vor den lästigen Verkupplungsversuchen ihres Vaters andererseits. Später kamen Marx und Lenin dazu, dann die Trotzkisten und verschiedene ihrer Abspaltungen, und als Grace Lee merkte, dass ihr das alles zu theoretisch wurde, weil sie zwar bald täglich philosophische Abhandlungen über den Klassenkampf der Arbeiter verfasste, aber leider keinen einzigen Arbeiter kannte, da beschloss sie, nach Detroit zu ziehen, um Feldforschung zu betreiben. Es war 1953, und sie 38 Jahre alt.

„Es war das erste Mal, dass ich begann, mich an einem Ort verwurzelt zu fühlen“, hat sie in ihrer Autobiografie geschrieben. Dass dieser Ort gerade dabei war, sich selbst zu entwurzeln, dafür konnte Grace Lee nichts. Viele Weiße besannen sich in den 50er- und 60er-Jahren, dass sie es doch nicht so ernst meinten mit der Akzeptanz ihrer schwarzen Kollegen, jetzt, da der Krieg, die Ausnahmesituation, vorbei war. Entsetzt stellten sie fest, dass Detroit eine mehrheitlich schwarze Stadt geworden war. Eine Stadt, die sie nun mit mehrspurigen Freeways zerschnitten, über die sie sodann in ihre weißen Vororte flohen. Mittlerweile stimmt auch das nicht mehr, heute ist das Zusammenleben in den Suburbs keine Frage mehr von Rasse, sondern von Klasse, von Geld und Zugang zu Bildung.

Aber damals? Da brodelte es in Detroit. Endlich hatte Grace Lee etwas Konkretes zu tun! Und was nicht ihr Kampf war, zumindest aufgrund ihrer persönlichen Lebensgeschichte nicht – sie war nicht schwarz, sie kam nicht aus den Südstaaten, sie gehörte keiner ethnischen Gruppe an, die gewillt war, den Aufstand gegen die Unterdrückung zu wagen –, das machte sie eben zu ihrem Kampf: Heiratete den schwarzen Arbeiterführer Jimmy Boggs. Nahm in Kauf, dass sie wegen ihm ihre Wohnung verlor. Sie verbrachten die Nächte ihrer Flitterwochen im Auto, weil die Hoteliers lieber auf Einnahmen verzichteten, als die Sünde zu begehen, einem mixed-race couple ein Zimmer zu vermieten. Sie bezog schließlich, 1962, mit ihrem Mann das Haus in der Field Street, die die ursprünglich weiße Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt bereits in Scharen verlassen hatte, und in der sie nun die einzige „Orientalin“ unter Schwarzen war.

Grace Lee Boggs erzählt diese Erlebnisse wie beiläufig und auch nur auf Nachfrage. Was sie dabei gefühlt hat? Erst überhört sie die Frage, dann gibt sie vor, sie nicht zu verstehen, schließlich sagt sie genervt: „Ich bin keine Exotin, und ich war auch nie eine Exotin meiner Zeit, dear!“ Andere sahen das differenzierter und verhängten Sanktionen. Ihre Mutter brach nach der Hochzeit mit Jimmy Boggs den Kontakt zu ihrer Tochter ab. Die Familie ihres Mannes arrangierte sich zwar mit der neuen Schwiegertochter, brauchte dafür aber Zeit; Jimmy Boggs hatte sich erst kürzlich von seiner ersten Frau getrennt, das sechste Kind kam erst nach der Scheidung zur Welt.

Einige Freunde, ausgerechnet ihre revolutionären linken Weltverbessererfreunde, teilten ihr schriftlich mit, wie sehr sie ihre Entscheidung missbilligten. Einzig aus politischen Gründen, versteht sich. Anstatt Wahlen zu boykottieren, rufe Jimmy Boggs beispielsweise dazu auf, wählen zu gehen, und das, obwohl doch bekannt sei, wie undemokratisch und nutzlos das US-Wahlrecht sei, das System zu stürzen. Anstatt die Gewerkschaften, die Vertreter der Arbeiterrechte, zu unterstützen, kritisiere er, der Fließbandarbeiter, sie als nutznießende Garanten dafür, dass die Arbeiter niemals die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel bekämen. Öffentlich sage er das! Und mit so einem wolle sie, Grace Lee, leben?

Splittergruppen und Marx

„Jimmy und ich waren Realisten“, sagt Grace Lee Boggs. Sie beobachteten. Wie linke Splittergruppen sich über Kleinigkeiten bei der Auslegung von Marx in die Haare gerieten, um hinterher aber doch gemeinsam ein Bier trinken zu gehen und sich in einer Frage einig zu sein: dass die Schwarzen unter ihnen leider nicht mitkommen könnten, weil in der Kneipe ja nun mal Schwarze nicht bedient würden.

Lange her ist das alles. Heute sind die schwarzen Nachbarn, in deren Gemeinschaft Grace Lee Boggs so gern leben wollte, in die Vororte gezogen, und die wenigen, die geblieben sind, dürfen selbstverständlich jeden öffentlichen Ort besuchen, vorausgesetzt, sie können es sich leisten. Die Frage mit den Produktionsmitteln hat sich erledigt, es gibt nichts mehr zu produzieren, und außerdem sind viele derjenigen, die sich darüber einst die Köpfe heiß geredet haben, tot.

„Ach“, sagt Grace Lee Boggs versöhnlich, „Marx hatte eben ein Konzept für seine Zeit, und ich habe eines für unsere.“ Und so guckt sie fröhlich den grasenden Pferden mitten in der Innenstadt der einstigen „Motor City“ zu, animiert Jugendliche und junge Erwachsene zur Gartenarbeit, die sie selbst hasst, sagt, dass „der größte Fehler der Linken ist, dass sie nur protestieren, aber nichts selbst anpacken“, und hofft, dass sie ihren hundertsten Geburtstag in zehn Jahren hier auch noch verleben wird.