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: Die Macht des Lesers und die Spielräume der Autorin: Cornelia Funkes neuer Abenteuerschmöker „Tintenblut“

Atemlos. Das ist das Wort, das mir einfällt, wenn ich an Cornelia Funke denke. Atemlos ist die Hetzjagd der kleinen Meggie in „Tintenblut“: ein Wettlauf um Leben und Tod, um Gut und Böse. Ein Parforceritt durch mittelalterliche Szenerien, turbulent, gewalttätig, spannend. Atemlos ist auch Funkes Aufstieg zu Weltruhm: Im Ranking des Time-Magazin zur bedeutendsten Deutschen geadelt, hört man nun, dass sie nach ihrem Umzug nach Los Angeles bereits 450 Seiten des dritten Bandes der Tinten-Trilogie zu Papier gebracht habe. Geht dieser Funke denn nie die Puste aus? Aber die scheint nur abzuwinken. Wie Erfolg beflügelt, das lässt sich an Funke wunderbar studieren.

Auf „Tintenherz“ folgt nun also „Tintenblut“, ein 700 Seiten schwerer Abenteuerschmöker. Der Roman schließt direkt an den Vorgänger an: Meggie kann wie ihr Vater, der begnadete Bücherrestaurator Mo, Figuren aus Geschichten heraus- und wieder hineinlesen. Figuren wie Staubfinger, der zehn Jahre in der echten Welt der Leseratte Meggie zubrachte; oder wie dessen Freund Farid, von Mo einst versehentlich aus „1001 Nacht“ herausgeholt. Buchfiguren bevölkern die Wirklichkeit und echte Menschen schleichen sich in die märchenhafte Geschichte ein – nach diesem Prinzip funktioniert auch „Tintenblut“.

Doch nun wird alles noch komplizierter: Erzählte „Tintenherz“ von der Macht des Lesers, so fragt Funke jetzt, welche Spielräume ein Autor hat. Als allmächtiger Zauberer fühlt sich dieser Fenoglio, der selber eine Rolle in dem Buch spielt, das er erfunden hat. Doch dann muss er feststellen, wie ihm seine eigene Geschichte entgleitet. Nicht nur, dass Figuren hinein- und herausgelesen werden, auch eigene handwerkliche Fehler bringen den Plot ins Schlingern. Mal hat Fenoglio vergessen, was er geschrieben hatte, mal lässt er eine tote Figur wiederauferstehen. Und dann gibt es auch noch Figuren, die sich plötzlich selbst als Autor fühlen und an der Geschichte herumerzählen, wie es ihnen gefällt. Orpheus nennt sich so ein talentierter Tausendsassa, der „die Tür zwischen den Buchstaben“ zu öffnen weiß.

Wer ist eigentlich der Herr über diese Geschichte? Ihre Leser, die nun plötzlich mitspielen? Der Jungschriftsteller Orpheus? Der gestandene Autor Fenoglio, ein unvollkommener Gott, der Menschen erschaffen und verschwinden lassen kann, dabei aber manchmal höchst fahrlässig rumschludert?

Wie konnte es sein, dass der schöne Cosimo, Sohn des Speckfürsten, gestorben ist, obwohl er das Gute schlechthin verkörperte und Fenoglio ganz auf seiner Seite stand? Welche Folgen hat es, dass Fenoglio Meggies Vater als Vorbild für eine seiner Figuren genommen hat? Warum will Staubfinger unbedingt in seine Geschichte zurück, obwohl Fenoglio ihm doch den Tod angedichtet hat? Warum will Meggie eigentlich ihre liebenden Eltern und ihr büchergesegnetes Zuhause verlassen, um sich in dieser mittelalterlichen Erzählung entsetzlichen Gefahren, Hunger und Gewalt auszusetzen? „Tintenblut“ steckt voll verflixter Fragen. Sie bilden den Basso continuo in einem gewaltigen und zuweilen ziemlich lauten Orchesterstück. Dieser Roman ist reichhaltig und prall, doch manchmal schwirrt einem mächtig der Kopf, so wuseln die Figuren durcheinander.

Cornelia Funke schenkt ihren Nebenschauplätzen und erzählerischen Ranken viel Aufmerksamkeit, doch wie sie das Gute gegen das Böse antreten lässt, folgt einer berechenbaren Dramaturgie. Die Fragen, die sie stellt, und die Kämpfe, die ihre Figuren ausfechten, sind oft nur lose miteinander verbunden. Das sind die kleinen Schwächen eines großartigen Romans, der auch als Hörbuch seine Vorzüge hat und gut funktioniert. ANGELIKA OHLAND

Cornelia Funke: „Tintenblut“. Dressler Verlag, Hamburg 2005, 707 Seiten, 22,90 Euro „Tintenblut“ als Hörbuch: Sprecher Rainer Strecker, Musik Ulrich Maske. GoyaLit im Jumbo-Verlag, Hamburg 2005, 18 CDs, 74,95 Euro