... da lohnt sich ein Besuch

Die Achse Paris-New York-Leer: In der ostfriesischen Kleinstadt trifft sich die internationale Avantgarde des Jazz. „Wir wollen möglichst Musiker hier haben, die über den Tellerrand gucken“, sagt Organisator Wilfried Berghaus. Dass dies gelingt, liegt auch an der Bedächtigkeit des ostfriesischen Publikums

von Uwe Wiedenstried

Hoch und gewaltig wölbt sich der Himmel. Stahlblau kann er sein, mit Wolken, die, riesigen Wattebäuschen gleich, auf ihm reisen, aber auch grau wie Blei, ja schwarz, wenn es Bindfäden schüttet. Alles ist Himmel auf diesem Landstrich, die Erde ist eine Scheibe. Sie bietet dem Auge wenig, zumindest dem flüchtig blickenden: Grüne Weiden, flach wie ein Kuhfladen, die sich bis an den Horizont zu dehnen scheinen, schwarzbuntes Vieh mit prallen Eutern, Windräder, Schafe, ein Hof hie und da, meist aus grobem roten Backstein, schmale Kanäle und pielgerade Straßen, von Bäumen gesäumt, die sich dem ewigen Wind aus dem Westen beugen. Wer hierher kommt, kommt wegen der See, der Inseln, der malerischen Fischerorte mit ihren Krabbenkuttern, der guten Luft, der schmucken Städtchen.

Für Urlauber ist Ostfriesland ein Paradies, für Volkswirte eine strukturschwache Region, für die meisten Deutschen schlicht und einfach Provinz. Im Süden Ostfrieslands, dort, wo Leda und Ems zusammenfließen, liegt Leer, eine Stadt mit 33.000 Einwohnern. Dorthin zieht es Menschen aus aller Welt. Sie kommen aus Köln, Berlin, Amsterdam, London, Rom, Boston, Chicago und New York. Sie kommen nicht als Touristen, nicht wegen der Altstadt mit ihren Backsteingassen und ihren Giebelhäusern im niederländischen Spätbarock oder wegen des Museumshafens; sie kommen, um zu arbeiten, und ihr Arbeitsplatz ist ein Hafenspeicher aus dem 18. Jahrhundert, in dem einst Fisch, Tee, Mehl, Salz und Gewürze auf zwei Etagen lagerten. Die Zwischendecke ist längst herausgehauen, das Gebäude entkernt; die Leeraner haben ihren Speicher mit viel Liebe und Holz restauriert. Heute bietet der Raum auf der Empore und im Parkett Platz für 180 Menschen, eine intime Clubatmosphäre, eine gute Akustik und eine Bühne, auf der ein roter Konzertflügel steht.

Im „Kulturspeicher“ in Leer tritt die internationale Avantgarde des Jazz auf. „Jazz live im Speicher“ heißt die Reihe, die im November 1992 mit einem Konzert des John Tchicai Quartetts ihren Anfang nahm. Acht Konzerte gibt es seitdem pro Jahr. Veranstalter sind die Volkshochschule und die Stadt Leer, die mit Hilfe von Sponsoren ein Programm auf die Beine stellen, von dem Wolfram Knauer, Leiter des Darmstädter Jazzinstitutes, schreibt, dass es „seinesgleichen sucht, im Norden sowieso, aber auch im bundesrepublikanischen Vergleich, denn in den Großstädten sind solche Reihen eigentlich überhaupt nicht mehr zu finden“.

Verantwortlich für das Programm ist der Stadtjugendpfleger Wilfried Berghaus. Seit 30 Jahren besucht er Jazzkonzerte, fotografiert und lernt so Musiker kennen. Für „Jazz live im Speicher“ nutzt er seine Kontakte und holt Musiker nach Leer, die im zeitgenössischen Jazz zur Spitze gehören oder auf dem besten Weg dorthin sind: Die Saxophon-Stars Lew Tabackin, Herb Geller, Harold Land, Red Holloway und Evan Parker waren in Leer. Der Pianist und Wegbereiter eines eigenständigen europäischen Jazz, Alexander von Schlippenbach, hat hier gespielt. Die „Führungskader“ des ostdeutschen Jazz, Conrad Bauer, Ulrich Gumpert, Ernst-Ludwig Petrowsky und Günter „Baby“ Sommer, die sich selbstironisch „Zentralquartett“ nennen, sind hier aufgetreten. Der Trompeter Steven Bernstein kam mit seinem Sex Mob aus New York. Der kalifornische Klarinettist Michael Moore vollbrachte das Wunder, Songs von Bob Dylan in Jazz zu verwandeln. Masha Bijlsma aus Amsterdam hat hier gesungen. Nils Wogram, „die neue Posaunenstimme Europas“, stand hier auf der Bühne ebenso wie der unorthodoxe Perkussionist Gerry Hemingway aus Connecticut. „Von Hardbop bis Freistil, das ist so die Idee unserer Reihe“, sagt Berghaus. „Es geht um die Spielhaltung, nicht um Kategorien. Wir wollen möglichst Musiker hier haben, die über den Tellerrand gucken.“

60 Zuhörer sind immer da, oft ist das Haus voll. Sie sind zwischen 18 und 70 Jahre alt und kommen aus der Stadt, der Region, aus Bremen, Osnabrück, Groningen. „Wir erreichen Hunderte“, sagt Berghaus. Das Publikum tausche sich von Konzert zu Konzert aus: Zu der Saxophonistinnen-Combo The Tiptones komme ein anderes Publikum als zu den schrägen Klezmer-Klängen von Naftule‘s Dream – wenn man einmal von den 20 Stammbesuchern absehe, die jedes Mal dabei seien.

Das Publikum ist ein Grund dafür, warum Musiker aus aller Welt so gern nach Leer kommen. „Die Leute hören konzentriert zu“, sagt Berghaus. „Sie reden nicht dazwischen, sie klatschen erst am Ende eines Stückes und nicht nach jedem Solo. Mancher mag darin die angebliche Bedächtigkeit, ja Sturheit von uns Ostfriesen sehen. Die Musiker schätzen diese Aufmerksamkeit sehr.“

Der „Kulturspeicher“ ist ein Begriff in der Szene. „Es geht das Bonmot, dass sich Musiker selbst in New York über Auftritte in Leer unterhalten“, sagt Berghaus. Ob‘s stimmt? Wundern würde es ihn nicht, denn seine Telefonnummer hat sich längst herumgesprochen: „Das ist ein Schneeballsystem.“ Die Saxophon-Legende Yusef Lateef habe ihn bereits dreimal aus Paris angerufen. Noch stehe kein konkreter Termin, aber Lateef wolle unbedingt im nächsten Jahr nach Leer kommen.

Am 9. Dezember gibt es das 100. Konzert „live im Speicher“ mit Doppelmoppel, einem Quartett aus Conny und Johannes Bauer an den Posaunen und den Gitarristen Joe Sachse und Uwe Kropinski. 100 Konzerte, dieses Jubiläum feiern die Leeraner mit der Herausgabe einer Doppel-CD. In 23 Titeln sind viele der Künstler zu hören, die im „Kulturspeicher“ aufgetreten sind. Tantiemen wollten weder die Musiker noch ihre Plattenfirmen dafür; die CD ist ihr „Thank you“ an die Leeraner. Der Erlös fließt zu 100 Prozent in die Konzertreihe. Denn in Leer plant man schon fürs nächste Jahr. Im Januar kommt mal wieder ein Weltstar, der Saxophonist Lee Konitz, im Februar Boom Box, ein deutsch-australisch-kanadisches Trio aus dem Saxophonisten Thomas Borgmann, dem Drummer Tony Buck und dem Bassisten Joe Williamson.

„Da kann man als Hamburger richtig neidisch werden“, schreibt Wolfgang Kunert, Leiter der NDR-Jazzredaktion, den rührigen Leeranern zum Gruß ins Booklet ihrer Jubiläums-CD. Leer, Ostfriesland: Von wegen Provinz!