Klare Verhältnisse sind besser

Erst wenn Peter Sloterdijk mit möglichst explosiven Stoffen hantieren kann, läuft seine kulturkonservative Essayistik zu Hochform auf. Diesmal verficht er ernsthaft die These, alle Geschichte sei eine „Geschichte von Zornverwertungen“

VON MARTIN BAUER

Bekanntlich ist die historische Anthropologie Peter Sloterdijks Metier. Den Fragen nach der geschichtlich geformten Natur des Menschen geht er jedoch mit einem Hang zur Pyrotechnik nach. Erst wenn er mit möglichst explosiven Stoffen hantieren kann, läuft seine kulturkonservative Essayistik zu Hochform auf. So auch in seinem jüngsten Buch zu einem ebenso elementaren wie energiereichen Affekt: dem Zorn.

Sloterdijk verficht hier ernsthaft die These, „alle Geschichte“ sei eine „Geschichte von Zornverwertungen“. Der in Karlsruhe und Wien lehrende Professor schreibt an einer Zivilisationsgeschichte menschlicher Aufwallungen, in deren Zentrum die „Domestizierung des Zorns“ steht. Sloterdijk blättert in den Akten einer langen und erfolgreichen Dressur, um zu dokumentieren, wie Philosophie, Religion und Politik die Zornimpulse der Menschheit gebändigt haben. Das aufwendige Großexperiment hat für Sloterdijks Begriffe zu einer verhängnisvollen Selbstverkleinerung der menschlichen Spezies geführt. Dieser Niedergang wird in ausgewählten Kapiteln rekonstruiert, die sich der abendländischen Antike, dem jüdisch-christlichen Monotheismus und dem Kommunismus widmen.

Sloterdijks Sondierungen, zumal seine Auseinandersetzung mit den religiösen und politischen Zornsammelbewegungen, zielen letztlich auf eine „politische Anthropologie der Gegenwart“. Sie sollen einen alten Befund bekräftigen, den der Autor in immer neuen Versionen vorträgt: die Weltgesellschaft lebt in der Epoche nach dem Ende der Geschichte. Insofern geht es ihm um eine definitive Deutung der „postkommunistischen“ Situation. Weder das Ereignis des 11. Septembers noch der Aufstieg der Vereinigten Staaten zu einer global operierenden Hegemonialmacht stellen die Diagnose vom Ende der Geschichte in Frage.

Selbst der sich radikalisierende islamische Fundamentalismus wäre nach Sloterdijks Urteil gründlich missverstanden, wollte man in ihm eine Bewegung identifizieren, die weltgeschichtlich wirksames Handeln ermöglicht. Zwar schärft Sloterdijk in suggestiven Formulierungen ein, was den Massen fanatisierter Verlierer zuzutrauen ist. Doch lässt sich die ostentative Nüchternheit des Anthropologen durchaus nicht von beunruhigenden Ausblicken in die Exzesse gewaltbereiten Zorns irritieren.

Auch angesichts des drohenden Unheils steht das Urteil fest: Mit erfolgreichen Sammlungsbewegungen, alten oder neuen Katholizismen, die individuelle Energien in kollektive Intensitäten von politischer Relevanz verwandeln, ist nicht mehr zu rechnen. Als politisierbarer Affekt hat sich der Zorn erschöpft. Dieses Fazit hat sich insbesondere die Linke ins Stammbuch einzutragen. Es besiegelt eine Existenz, die sich stets mit dem Empörungspotenzial der Zukurzgekommenen gerechtfertigt hatte, um sich im „Ressentiment gegen das Privateigentum“ letztlich nur auf die Lebensqualität ihrer Funktionäre zu kaprizieren. „Posthistorie“ ist und bleibt die Signatur der Jetztzeit.

Den von Sloterdijk thematisierten Affekt hatte Griechenland unter dem Namen thymós geführt. Thymos ist eine handlungsauslösende Kraft, die sich ganz unterschiedlich zu äußern vermag, als Verlangen, als Laune, als Stimmung oder Temperament. Dabei ist in den antiken Texten eingesehen, dass die aus dem Thymos resultierenden Aktivitäten durchaus schädlich sein können. Aristoteles heißt daher nur den durch die Vernunft auf das rechte Maß beschränkten Thymos gut. Damit unterschreibt er ein Urteil, das Platons politische Theorie bereits über den vernunftgeleiteten gerechten Zorn gefällt hatte. Einen solchen Zorn setzt Platon als moralisch gerechtfertigtes Gefühl sowohl vom Thymos als spontanem Jähzorn wie auch vom nachtragenden, zumal auf Rache zielenden Groll ab.

Obwohl bei den griechischen Philosophen beginnt, was Sloterdijk als die Austreibung des Zorns aus der Kultur bedauert, ist ihm die antike Tradition kostbar. Seiner Ansicht nach müssen wir zur „Grundansicht“ der Psychologie der Griechen zurückkehren. Denn sie hatten begriffen, dass sich die menschliche Seele nicht allein in der Erotik auslebt, also im Verlangen nach Objekten, in deren Besitz wir uns bringen wollen, sondern auch und gerade in den Regungen des Thymos.

Es ist die „Thymotik“, wie Sloterdijk sagt, die den Menschen jene Bahnen erschließt, „auf denen sie geltend machen, was sie haben, können, sind und sein wollen“. Freiheit, glaubt Sloterdijk, sei auch heute ein Begriff, „der nur im Rahmen einer thymotischen Menschensicht Sinn ergibt“. Keine These, die Platon oder Aristoteles für sinnvoll gehalten hätten, waren ihnen zufolge die auf den Thymos zurückgehenden Handlungen doch weder freiwillig noch gänzlich unfreiwillig. Sloterdijks thymotische Menschensicht, die Freiheit im Kern auf Bewegungsfreiheit verkürzt, wäre in Wahrheit durch antike Autoren nicht zu beglaubigen.

Die Prozeduren der Zornaustreibung muss Sloterdijk als die Geschichte eines fatalen Vergessens erzählen. Denn von flüchtigen Reminiszenzen abgesehen, ist der Gegenwart das Wissen um die Bipolarität der menschlichen Psyche abhanden gekommen. Auf der Bühne dieser Amnesie beherrschen zwei Schurken das Geschehen: Christentum und Psychoanalyse. Bei beiden handelt es sich nach Sloterdijk um „kluge Bigotteriesysteme“, welche die Axt an die Wurzeln des Zorns gelegt haben.

Nachdem Platon den Zorn eigentlich nur unter dem Vorbehalt seiner notwendigen Rationalisierung im moralischen Gefühlshaushalt der Polis-Bürger zugelassen hatte, gerät der Thymos postplatonisch unter einen noch schärferen Verdacht. Er wird als Hochmut verworfen, eine Abwertung, an die sich das Christentum mit seinem anhaltenden Lob der Demut anschließt. Zur Religion des römischen Imperiums aufgestiegen, produziert seine Sündenlehre schließlich den Typus eines formbaren Untertanen, der sich noch den Verzicht auf Eigensinn, Geltungsstreben und Urteilskraft als moralische Auszeichnung gutschreibt.

Sich ausschließlich auf den Erospol der Psyche konzentriert zu haben, also darauf, „die conditio humana insgesamt von der Libidodynamik her“ zu erklären, ist Sloterdijks Vorwurf an die Psychoanalyse. Wegen dieser Vereinseitigung bleibt sie aus prinzipiellen Gründen unvermögend, Rechenschaft „von der Thymotik des Menschen beiderlei Geschlechts“ abzulegen. Zu „seinem Stolz, seinem Mut, seiner Beherztheit, seinem Geltungsdrang, seinem Verlangen nach Gerechtigkeit, seinem Gefühl für Würde und Ehre, seiner Indignation und seinen kämpferischen Energien“ hat die Psychoanalyse kein Wort zu sagen.

Die unheilige Allianz von Christentum und Psychoanalyse führt nach Sloterdijks Ermessen zur „thymós-vergessenen therapeutischen Kultur“ der Gegenwart. Sie reagiert auf alle Erscheinungsformen individuellen oder kollektiven Geltungsdrangs mit der pathologisierenden Vorstellung, „diese Leute müssten Opfer eines neurotischen Komplexes sein“. So werden Menschen zu Patienten „ – das heißt zu Personen ohne Stolz.“

Wo Zorn war, ist stolzlose Demut entstanden, Aggression fand sich in Autoaggression umgemünzt; was die Souveränität eines sich selbst bejahenden Individuums hätte sein und werden können, hat ein machtvoller, offenbar mit dem Monotheismus in die Welt gekommener Geist der Rache denaturiert. Dem fruchtbaren Schoß eines ungebrochenen Egoismus, der – wie Sloterdijk zu wissen meint – oft nur das „Incognito der besten menschlichen Möglichkeiten“ sei, ist eine hässliche Missgeburt entsprungen: das Ressentiment.

Es macht den Tüchtigen ein schlechtes Gewissen. Und indem es die Starken – Sloterdijk spricht neutraler von „Eliten“ – schwächt, vergiftet es die Welt bis auf den heutigen Tag: etwa in der Gestalt „theistischer Demutsdressuren“, die „im demokratischen Konsensualismus“ nach Sloterdijk „nahezu ungebrochen“ fortwirken. Selbst die Entscheidungsverfahren demokratischer Willensbildung identifiziert der Zorn- und Zeithistoriker als Maßnahmekataloge, mit denen sich politische Kollektive des Westens von den Selbstbehauptungskräften trennen, über die sie anscheinend ungehemmter verfügen sollten. Auch und gerade der demokratische Konsens scheint die virile Macht des Zorns zu verweiblichen, natürlich zum Nachteil eines der Überalterung ausgelieferten Westens, der sich mit den Jungmännermassen religiöser Fanatiker konfrontiert sieht. „In einer solchen Lage“, schärft Sloterdijk noch seinem unbedarftesten Leser ein, „stehen die Zeichen auf Sturm.“

Deren Ausdeutung darf Sloterdijk auf keinen Fall den „Partisanen eines weinerlich-kommunikativen Eros“ überlassen, demjenigen Typus mithin, in dem sich für ihn „der gute Mensch der Gegenwart“ verkörpert. Diese Menschen, die keinen Sinn mehr für sie Übergreifendes haben, diese letzten Menschen, mit dem kleinen Lüstchen für den Tag und dem kleinen Lüstchen für die Nacht, sind bei Lichte besehen zornentwöhnte Leistungsverweigerer. Ihnen ist durch staatliche Daueralimentierung und Konsumentenschutz abhanden gekommen, was Sloterdijk aus der Unterdrückungsgeschichte des Zorns unbedingt für die Gegenwart der Nachgeschichte retten will: das Verlangen nach Auszeichnung im vorbehaltlosen Einsatz, die Lust daran, sich im Bewusstsein eigener Begabungen, Talente und Vermögen mit anderen zu messen und zu verausgaben, der drängende Wunsch, dem eigenen Stolz die nötige Anerkennung zu verschaffen.

Ohne solche Ambitionen wäre jene „Ökonomie der Generosität“ blockiert, deren „metakapitalistische“ Heraufkunft Sloterdijk mit Blick auf einen „thymotischen Gebrauch des Reichtums“ beschwört, der in den USA bereits als „gesicherte zivilisatorische Tatsache“ erkennbar sei. In diese Richtung soll also die nachgeschichtliche Reise gehen.

Dass sich eine solche, deutlich geistesaristokratisch eingefärbte Zeitdiagnostik auf den wortmächtigsten Kritiker des Ressentiments beruft, wird niemanden überraschen. Unüberlesbar stellt Sloterdijk fest, Friedrich Nietzsche sei in der „nicht weniger als zwei Jahrtausende“ währenden Dekadenzgeschichte des Zorns diejenige Ausnahmeerscheinung gewesen, die „für klare Verhältnisse gesorgt“ habe. Und weil klare Verhältnisse trivialerweise besser sind als unklare, müssen sie wiederhergestellt werden. Dass sich Nietzsches Klarheiten, woran vielleicht zu erinnern wäre, einer genealogischen Analyse verdanken, die den „Sklavenaufstand in der Moral“ mit Tönen geißelte, zu denen ein ganzes Spektrum antisemitischer Klangfarben gehörte, beunruhigt Sloterdijks Ehrgeiz keine Sekunde. Er wiederholt Zarathustras Angriff auf den letzten Menschen in Reformulierungen, die das Plädoyer für die Züchtung des Übermenschen vermeiden, dennoch aber sinnfällig machen wollen, warum Nietzsches Anthropologie bedeutsam für die Gegenwart bleibt.

Welche Unkosten dabei anfallen, mag ein Detail enthüllen. Kein Hehl macht Sloterdijk daraus, dass die anstehende „Wende zu einem höheren psychologischen Realismus“ eine wichtige, gewissermaßen methodische Voraussetzung hat. Man muss der Versuchung widerstehen, „zu viel Verständnis für die normalen, allzu normalen Handlungen von begierdehaft und ressentimentgeladenen Menschen“ aufzubringen. Wo kämen wir hin, ließe sich der Pyrotechniker Sloterdijk davon den Blick für die harten Wirklichkeiten der thymosgetriebenen Anerkennungskämpfe in der Posthistorie verstellen?

Peter Sloterdijk: „Zorn und Zeit. Politisch- psychologischer Versuch“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 356 Seiten, 22,80 Euro