„Die RAF hat die Medien benutzt“

Der in Potsdam geborene KLAUS BÖLLING, 78, war von 1974 bis 1981 Sprecher der Regierung von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Danach löste er Günter Gaus als Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in der DDR ab. Bölling studierte Geschichte und Germanistik und schloss sich als 17-Jähriger am Ende des Zweiten Weltkriegs vorübergehend den Kommunisten an. Ab 1947 arbeitete er als Redakteur für verschiedene Zeitungen und Rundfunksender. Während des Vietnamkriegs war er Chefkorrespondent der ARD in den USA.

INTERVIEW REINER METZGER

taz: Herr Bölling, kannten Sie RAF-Terroristen persönlich?

Klaus Bölling: Ich bin Ulrike Meinhof in meiner Zeit als Chefredakteur des NDR zusammen mit anderen Journalisten zweimal begegnet. Wir haben den ungemein scharfen Intellekt dieser Frau und ihren Idealismus nicht nur respektiert, sondern gesagt: Donnerwetter, das ist eine starke Frau. Umso enttäuschter war ich und alle anderen, dass sie eines Tages in den frühen 70er-Jahren gesagt hat, sinngemäß, Bullen sind keine Menschen, das sind Schweine. Und natürlich darf auf sie geschossen werden. Welche Wandlung im Charakter einer Frau, ohne die sich vermutlich die RAF gar nicht zu einem solchen mörderischen Unternehmen entwickelt hätte.

Haben Sie damals diese langen RAF-Erklärungen zu den Morden en detail gelesen?

Hören Sie mal, das war ja meine Pflicht! Wir haben im „Kleinen Krisenstab“, auch im Großen Beratungskreis mit Franz Josef Strauß und Helmut Kohl, jedes einzelne RAF-Dokument studiert. Jeder Satz in den Verlautbarungen ist mit größter Sorgfalt analysiert worden. Bei diesen Analysen hat Horst Herold, Chef des Bundeskriminalamtes, mit seiner Rasterfahndung Hervorragendes geleistet. Ich kann heute noch Passagen aus den Texten der RAF auswendig sagen.

1977 an Ostern wurde Generalbundesanwalt Siegfried Buback von RAF-Mitgliedern erschossen. Der Mord stand in einer Reihe von Anschlägen, die schließlich in der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer gipfelten. Als die Entführer ihre eingesperrten Kampfgenossen freipressen wollten, organisierten Sie als Chef des Bundespresseamtes eine sogenannte Nachrichtensperre.

Das ist ein Schlagwort geworden, mit dem man die Bundesregierung buchstäblich schlagen und ins Unrecht setzen wollte. Erlauben Sie den Hinweis, dass es einen ganz engen Zusammenhang gibt zwischen dem politisch getarnten oder auch motivierten Terrorismus und den Massenmedien. Es gäbe weltweit nicht so viele blutige „Erfolge“ des Terrorismus – nicht nur vorübergehend der RAF, sondern auch im Hinblick auf die islamistische Gewalt von heute –, wenn die Terroristen sich nicht so oft und fast meisterhaft der Medien hätten bedienen können. Die Medien sind instrumentalisiert worden. Gerade von der RAF. Von Anfang an.

Aber das ist für die Medien ein existenzieller Zwiespalt: Sie wollen und müssen berichten, werden aber benutzt. Sollen sie über den Terror schweigen?

Aber nein, das wäre eine völlig wirklichkeitsfremde Vorstellung. Die Presse in einer funktionierenden Demokratie soll Wächter der Freiheitsrechte im Sinne des Grundgesetzes sein. Bei einer so dramatischen Entwicklung, bei der eine Gruppe wie die RAF die vermeintlich Verantwortlichen für die kapitalistische Ausbeutung der Massen willkürlich und ausdrücklich „selektiert“ – Sie wissen, in welchem schrecklichen Kontext die Nazis dieses Wort gebraucht haben –, gibt es für den Staat jedoch zwingende Notwendigkeiten zum Schutz der ihm anvertrauten Bürger; soll heißen, eine wirklich effiziente Fahndung nach den Entführern von Hanns-Martin Schleyer sollte gewährleistet sein.

Und was taten Sie konkret?

Ich habe deshalb im Auftrag von Bundeskanzler Helmut Schmidt am 8. September 1977 einen Brief an die Chefredakteure und Intendanten geschrieben und darin um größte Behutsamkeit bei der Berichterstattung gebeten. Ich bat darum, „Nachrichten, die tatsächlich oder dem Anschein nach von den Terroristen oder ihren Helfern stammen, erst nach Konsultationen mit der Bundesregierung zu verwenden“. Dazu stehe ich auch heute. Mit Zensur hatte das wirklich nichts zu tun.

Gute Notstandspraxis also?

Es sind im Kontext mit dem „deutschen Herbst“ gewiss manche Fehler einzuräumen, doch sind das keine Fehler in der eigentlichen Strategie gegen den RAF-Terror. Wir hatten doch nicht die Erfahrungen mit Terroristengruppen wie die Engländer mit der IRA oder die Spanier mit der ETA. Der Bundeskanzler hatte mir, mit Zustimmung der Herren Strauß und Kohl, die Aufgabe übertragen, das wenige zu sagen, was ohne Gefährdung der Fahndung gesagt werden durfte. Leider war anfangs nur wenigen bewusst, dass durch die Publikation von Fahndungsmaßnahmen das Leben eines Menschen gefährdet werden konnte, der sich in Gewahrsam der RAF befand. Viele meiner alten journalistischen Kollegen, die zunächst murrten, haben die Berechtigung unserer Argumente nach den immer neuen Mordtaten als sinnvoll anerkannt. Andere haben von Metternich-Methoden geredet.

Der linke Teil der Bevölkerung hat das überhaupt nicht eingesehen. Und die Kontaktsperre für die Terroristen untereinander und zu Besuchern sorgte ebenfalls lange für Empörung.

Das Hochsicherheitsgefängnis in Stuttgart-Stammheim ist dämonisiert worden. Nicht erfolglos, wie ich zugeben will. Da hat es nahezu täglich geheißen, dies sei Isolations- und Folterhaft. In dieser Strafvollzugsanstalt ist nichts Ungesetzliches geschehen. Die Gefangenen konnten sogar, einer laschen Bewachung wegen, untereinander kommunizieren. Horst Mahler, damals ein radikaler linker „Revolutionär“ und Anwalt, heute ein antisemitischer Hetzer, hat seinerzeit gesagt, ich zitiere ihn wörtlich: „Isolationshaft, das war eine Propagandalüge, darauf berechnet, die Linke der BRD moralisch zu erpressen und Faschismus vorzutäuschen, um die brutalisierten Kampagnen der RAF zu legitimieren.“ Die Sympathisantenszene sollte zu neuen Aktionen motiviert werden.

In der taz schrieben damals manche von „wir“, wenn es um den linken Terrorismus ging. Viele Linke sahen irgendwie gute Motive hinter dem Tun der RAF. Gegen „das System“ waren doch viele. Warum hat man Ihrer Meinung nach in der Unterstützerszene nicht schnell erkannt, dass der Terror ein völliger Irrweg war?

In jeder funktionierenden Demokratie gibt es stets eine Linke, die sollte es sogar geben. Die bestand zum Teil aus honorigen Akademikern, auch Künstlern, die sich nicht mit dem Status quo der Gesellschaft abfinden wollten. Daraus war ihnen kein Vorwurf zu machen. Auch Heinrich Böll, zu dem ich ein Vertrauensverhältnis hatte, gehörte dazu. Aber die meisten dieser „Sympathisanten“ hatten überhaupt keine Vorstellung davon, dass die RAF-Angehörigen die Knarre in die Hand nehmen und skrupellos abdrücken würden.

Und warum ist die Aufregung um die RAF nach all den Jahrzehnten immer noch nicht vorbei?

Solange die Morde an Herrhausen, Rohwedder, an Beckurts, an Zimmermann und von Braunmühl nicht aufgeklärt und gesühnt sind, darf die RAF nicht historisiert werden. Nicht zu vergessen die Opfer unter den pflichtgetreuen Polizeibeamten. Zur Aufklärung könnten einige RAF-Täter vielleicht auch heute noch beitragen. Zwingen kann man sie dazu nicht. Es wäre jedoch auch nach Verbüßung langer Haftstrafen eine Art von moralischer Wiedergutmachung an den Angehörigen der Opfer. Auch dazu sind sie nicht bereit.

Daher auch die heftige Diskussion um eine Begnadigung von Christian Klar?

Solange es nicht den guten Willen gibt, über die eigenen Verbrechen nachzudenken, kann es keine Aussöhnung mit den Verbrechern geben. Und wenn es um Gnade für Klar geht – ja gewiss, Gnade kann einen Staat zieren. Als Nichtjurist bin ich allerdings der Überzeugung, dass sich ein Mann, der mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hat, die Gnade verdienen müsste. Er ist aber völlig uneinsichtig.

Da ist er nicht der Einzige …

… erst vor wenigen Tagen hat mich nach einem Artikel über die RAF-Terroristen und über die Begnadigung von Klar ein junger Journalist, der im deutschen Herbst noch gar nicht geboren war, angerufen – empört darüber, dass ich die „Gesinnungstäter“ Mohnhaupt und Klar als „Killer“ bezeichnet habe. Was sonst sind sie denn gewesen? Beide standen in der vordersten Linie der Mörder. Das Wort Killer werde ich nicht zurücknehmen.

Muss man an diesen Killern Rache nehmen?

Es geht nicht um Rache. Es geht um das Wort von Johannes dem Täufer: griechisch „Metanoia“, „Tut Buße!“. Damit meinte Johannes nicht eine nach außen demonstrierte Bekundung zur Reue. Er meinte damit, dass nach einem Verbrechen, nach so langer Haft, die manchem unmenschlich erscheint, der Verbrecher sein Leben überdenkt und sich fragt, „Was hast du falsch gemacht, wie ändere ich mein künftiges Leben?“

Sie reden sich in Rage …

Wissen Sie, was mich noch heute zornig macht? Dass es auch jetzt noch ein paar junge Intellektuelle gibt, die sagen: „Die Genossen haben sich in Stammheim gar nicht das Leben genommen.“ Die seien vom Staat klammheimlich liquidiert worden. Das zeigt für mich, dass eine kleine Minderheit drei Jahrzehnte nach dem feigen Mord an Buback die RAF-Ideologie konservieren und die Täter verklären wollen.

Geblieben sind die Fahndungsgesetze von damals. Nach den Anschlägen in New York vom 11. September 2001 waren ja innerhalb sehr kurzer Zeit fertig ausformulierte neue Sicherheitsgesetze auf dem Tisch – als hätten einige auf eine Gelegenheit gewartet. War das damals ähnlich, etwa mit der völlig neuen Rasterfahndung per Computer? Die Kritik lautete ja, nun käme der Überwachungsstaat wegen der paar Terroristen.

Der Überwachungsstaat war damals und ist auch heute wieder ein Schreckgespenst. Als seien wir im Geschwindschritt auf dem Weg in den Orwell-Staat. Nach jeder terroristischen Tat werden in allen Demokratien Politiker und Bürger nach härteren Gesetzen rufen. Und finden dann auch Beifall von Leuten, die „Kopf ab!“ johlen. Die gab es auch im deutschen Herbst. Von solchen Stimmungen hat sich der Rechtsstaat zu keiner Zeit beeinflussen lassen. Sonst wäre er kein Rechtsstaat mehr.