Auf Juwelenjagd

Post aus New York: Der Raketenabwehrschild nutzt militärisch nichts. Die USA brauchen ihn, weil sie sonst keinen Grund mehr hätten, ihre Truppen in Europa zu stationieren

Marcia Pally ist Professorin an der New York University. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Werk „Lob der Kritik. Warum die Demokratie nicht auf ihren Kern verzichten darf“ beim Berlin Verlag.

Warum will Bush unbedingt einen Raketenabwehrschild in Europa? Warum gerade jetzt, wo die amerikanische Regierung sich müht, die Spannungen mit Europa abzubauen? Dabei ist nicht mal klar, ob das verdammte Ding überhaupt funktioniert. So wie auch das „Star-Wars“-Verteidigungsprogramm Ronald Reagans nichts gebracht hatte – außer einigen Milliarden Kosten.

Aber nehmen wir einmal an, der geplante „Schild“ funktioniert. Gegen wen sollte er uns schützen? Russland? Nur weil das Nato-Hauptquartier mitteilt, dass die Raketenabwehr nicht gegen Russland gerichtet ist, braucht das noch lange nicht zu stimmen. Und nur weil die deutsche Regierung meint, dass Putin seine ökonomischen Beziehungen zum Westen nicht durch Säbelrasseln als Antwort auf das Abwehrsystem der USA gefährden will, heißt das noch lange nicht, dass Putin nicht genau dies tun wird. Andererseits sagte Russlands Exverteidigungsminister Sergei Iwanow, sein Land könne den geplanten amerikanischen Abwehrschild leicht überwinden. Kann also sein, dass er doch nicht gegen Russland gerichtet ist.

Die USA bestehen darauf, es gehe um den Schutz vor Angriffen der Schurkenstaaten (Iran!). Der aber setzt voraus, dass eine Radarstation bei Prag oder eine Abfangstation für Raketen in Polen die Katastrophe verhindern, die mit einem Raketenangriff auf Tel Aviv oder ein anderes regionales Ziel verbunden wäre. Wer das glaubt, hat eine Landkarte und einen Zeitmesser nötig. Außerdem: Sind die Mullahs wirklich potenzielle Selbstmörder, die lieber nach einem Angriff auf Tel Aviv von den USA kollektiv ausgelöscht werden wollen, als durch den Verkauf von Pistazien reich zu werden?

Kann sein, dass Bush glaubt, der Iran handle irrational. Aber sein Projekt der Raketenabwehr provoziert Russland. Es heizt die kriegerischen Stimmungen in Russland an, führt also zu einem Ergebnis, das die amerikanische Regierung gerade nicht wollte. Angesichts solcher Aussichten muss der Gewinn durch die Installierung des Abwehrsystems sehr hoch sein.

Oder ist es einfach so, dass die USA durch ihre Politik Antworten herausfordern, die sie keinesfalls wollten? So verhielt es sich des Öfteren in der Vergangenheit, etwa in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals sicherte Moskau zweifellos die Kontrolle über seine Peripherie. Polen, Bulgarien und Rumänien wurden besetzt, freie Wahlen und freie Märkte verhindert. Andererseits zog sich die Sowjetunion aus Norwegen und Finnland zurück, erlaubte demokratische Übergangsregierungen in Österreich und Finnland, ließ freie Wahlen in Ungarn und der Tschechoslowakei zu. Die Sowjetunion überließ den USA die Kontrolle über Japan und über die Ölfelder des Iran.

Dennoch verweigerten die USA der Sowjetunion einen Kredit für den Wiederaufbau. Dies führte dazu, dass die Sowjets aus ihrer deutschen Besatzungszone erhöhte Reparationen eintreiben mussten. Was wiederum zu einer Verstärkung der sowjetischen administrativen Kontrolle über ihr Herrschaftsgebiet führte. Ein Ergebnis, das Washington nicht wollte und von dem die USA-Regierung eigentlich wusste, dass es eintreten würde. Die Währungsreform in der britisch-amerikanischen Zone, eingeführt, um die amerikanische Einflusssphäre zu stärken, führte zur sowjetischen Blockade Berlins. Als Folge der Nato-Gründung 1948/49 verschärfte die Sowjetunion die Kontrolle über ihren Block, das hieß auch politische Unterdrückung in Rumänien, Bulgarien, Ostdeutschland und der Tschechoslowakei. Auf Moskaus Zehen herumzutrampeln, brachte den USA genau das, was sie gefürchtet hatten: einen zunehmend feindlichen Partner.

„Durch das multilaterale Konzept der Nato erhöhen wir die Abhängigkeit der Europäer.“ (Kennedy)

Die Welt der Entwicklungsländer bietet jede Menge vergleichbarer Beispiele. Der Kampf der USA gegen Unabhängigkeits- und sozialistische Bewegungen in Ländern der Dritten Welt hatte zum Ziel gehabt, diese Länder der amerikanischen Einflusssphäre einzuverleiben. Die Einmischung führte zur Bildung autokratischer oder diktatorischer Regime. Der Widerstand gegen diese Regime wiederum trieb die Bevölkerung in die Arme Moskaus oder Maos – so geschehen im Indochina Ho Chi Minhs, im Iran Mossadeghs, in Sukarnos Indonesien, in Arbenz’ Guatemala. Dies nur Beispiele aus einer langen, trostlosen Liste.

Auch beim Projekt des Raketenschirms wollen die USA nicht die Antwort, die sie bekommen werden. Vielmehr streben sie mit Hilfe des Schirms eine fortdauernde Führungsrolle in Europas Wirtschaft und Sicherheit an. Der Raketenschirm schafft Legitimation für die weitere amerikanische Präsenz zu einem Zeitpunkt, wo einsehbare Gründe für diese Präsenz schwinden. Kurz gesagt: Das Ziel der Raketenabwehr sind die Europäer.

In den 50er-Jahren hatte die Nato zwei Mandate: die Sowjets einzudämmen und den Frieden im westlichen Europa dadurch zu sichern, dass diese Länder der amerikanischen Einflusszone zugeordnet wurden. Kennedy analysierte glasklar: „Durch das multilaterale Konzept der Nato erhöhen wir die Abhängigkeit der europäischen Nationen von den USA und binden diese Nationen stärker an uns.“

Das Ende des Kalten Krieges bestätigte das. 1993 gab es die erste „Out-of-area“-Mission der Nato in Bosnien. Sie rechtfertigte die Fortdauer des Bündnisses. Während der Bombardierung des Kosovo wiederholte Präsident Clinton: „Wenn wir starke ökonomische Verbindungen haben, einschließlich der Fähigkeit, überall in der Welt Handel zu treiben, dann muss Europa der Schlüssel dieser Politik sein … darum geht es im Kosovo.“

Europa glaubte nicht daran, dass die Balkankriege der 90er-Jahre den Kontinent destabilisieren und dadurch die Handelsbeziehungen wie die Militärbasen der USA in Gefahr bringen könnten. Hingegen haben die USA stets geglaubt, ihr Überleben hänge von einem globalen Ring des Handels ab, mit Europa als Juwel. Immer waren sie in Sorge, dass ein Segment dieses Rings sich lösen würde. Erinnern wir uns an Senator Richard Lugar zu Bosnien: „Eine Ausweitung des Krieges würde verheerende ökonomische Folgen für Europa haben. Hieraus wiederum käme es in den USA zum Verlust von Arbeitsplätzen gerade zu dem Zeitpunkt, wo wir unsere ökonomische Erholung (von der 1992er Rezession, M.P.) auf unserem Exportpotenzial gründen wollen.“

Die USA streben mit Hilfe des Schirms eine fortdauernde Führungsrolle in Europa an

Immer noch sind die USA beunruhigt. Für den Iran, Russland und Europa ist das Raketenabwehrsystem aggressiv, aber die USA sind in einer defensiven Position. Sie fürchten um die Fortdauer ihrer Präsenz in Europa. Der Abwehrschild soll sie mit einer neuen Begründung dafür versorgen, dass sie in Europa bleiben. Es ist die gleiche Furcht, die die USA in den 50er-Jahren dazu führten, beim Sturz des demokratisch gewählten guatemaltekischen Präsidenten Jacobo Arbenz mitzuhelfen. Damals ging es um die Verhinderung der Landreform in Guatemala. Ironischerweise um ein Gesetz, das nach dem Vorbild des amerikanischen Homestead Act (Heimstättengesetz) von 1862 gebildet worden war. MARCIA PALLY

Übersetzung: CS