Der Vater der Parallelgesellschaft

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer gründete vor zehn Jahren das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung – und führt seither vor, wie erfolgreiche Forschung in einer globalen Wissensgesellschaft aussehen muss. Was macht er anders als sonstige Starprofessoren?

Geboren: 1945 Forschung: Als Professor für Pädagogik mit Schwerpunkt Sozialisation leitete er ab 1982 verschiedene Forschungsprojekte zu Rechtsextremismus, Gewalt und ethnisch-kulturelle Konflikte. Seit zehn Jahren leitet er an der Universität Bielefeld das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Publikationen: unter anderem „Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und Regionalismus in Westeuropa“ (2001)

VON PHILIPP GESSLER

Sicher: Die Stadt Bielefeld ist nicht ganz ohne Reiz, der Teutoburger Wald gleich nebenan kann herrlich sein, und wer es gemächlich mag, kann hier gut leben. Aber sonst, mal ehrlich, das ist schon Provinz. Die Moderne ist eher anderswo zu finden – mit einer entscheidenden Ausnahme: An der hiesigen Universität, die der Fabrikvision eines 70er-Jahre-Architekten gleicht, ist das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) zu finden, das heute vor zehn Jahren offiziell eröffnet wurde. Und wenn dieses Jubiläum bemerkenswert ist, dann liegt das an einem Namen, der viel bekannter ist als das IKG, das er gründete: Wilhelm Heitmeyer.

Der Soziologe, geboren 1945, darf als einer der modernsten Wissenschaftler des Landes gelten. Denn Heitmeyer, der äußerlich eher einem 68er-Gymnasiallehrer ähnelt, verbindet in sich Fähigkeiten, wie sie in der meist eher verschlafenen Forschungslandschaft Deutschlands zukunftsweisend sind: Der hervorragende Forscher ist zugleich ein sehr geschickter Wissenschaftsorganisator, ein großer Motivator, ein Medienprofi und, ja, auch ein Visionär. Funktionierte die deutsche Wissenschaft nach diesem Heitmeyer-Prinzip – die Bundesrepublik wäre bestens auf die globalisierte Wettbewerbs- und Wissensgesellschaft vorbereitet.

Der Wissenschaftler: Heitmeyer gehört zu den Stichwortgebern vieler großer Debatten der deutschen Gesellschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten – und zwar weil er seiner Zeit mit seinen Forschungen fast immer ein paar Jahre voraus war. Er forschte Ende der 80er Jahre über Rechtsextremismus, als viele diese Pest als gestrig abtaten. Als dann Anfang der 90er Jahre die Asylbewerberwohnheime brannten und rechtsradikale Skinheads auftraten, war Heitmeyer einer der wenigen, die ein schlüssiges Erklärungsmodell für dieses scheinbar so plötzlich auftretende Phänomen anbieten konnten. Ähnlich ging es ihm mit seinen Forschungen über die „politisierte Religion“, Jahre vor 9/11, über soziale Desintegrationsprobleme nicht nur in der sogenannten Unterschicht oder über islamistisch-fundamentalistische Orientierungen Jugendlicher türkischer Herkunft in Deutschland. Und gerade hier wurde er aus dem linken Spektrum, dem er selbst am ehesten zuzurechnen ist, angefeindet. Seine Forschungsergebnisse wollten nicht recht in das Schema einer falsch verstandenen political correctness passen.

Heitmeyer war einer der Ersten, der 1996 den Begriff „Parallelgesellschaft“ nutzte – wenn auch noch unter Anführungszeichen. Und dass dieser Begriff dann gerade durch rechte Politiker vor etwa zwei Jahren schwer in Mode kam, dürfte ihn geschmerzt haben. Dass sein Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, das er seit einigen Jahren verfolgt und sich international immer mehr durchsetzt, ähnlich missbraucht wird, ist allerdings unwahrscheinlich – dafür ist schon der Name zu sperrig.

Heitmeyer gewinnt solche neuen Erkenntnisse, weil er keine Angst vor neuen, in Sonntagsreden immer wieder geforderten interdisziplinären Ansätzen in der Forschung hat. Im Gegenteil, er fördert solche Kooperationen. Zu seinem Team gehören neben Soziologen wie selbstverständlich auch Psychologen, Pädagogen und Historiker und Wirtschaftswissenschaftler. Zugleich gehört es zu den Stärken Heitmeyers, dass er eigene Positionen anhand ihrer Kritik immer wieder überprüft. Ein Beispiel: Heitmeyer ließ bei einem Jubiläumssymposium am vergangenen Donnerstag in den Tagungsunterlagen einen Vortrag des Trierer Soziologen Roland Eckert auslegen. Der Text forderte von der Soziologie à la Heitmeyer, die großen historischen Ereignisse bei ihrer Forschung mehr zu beachten – und konnte auch als Klatsche für den Forschungsansatz des Jubiläumskinds gelesen werden.

Der Wissenschaftsorganisator: Heitmeyer ist ein Forschungsmanager par excellence. Es ist immer wieder verblüffend, wie er Geld, und zwar gehörige Summen, für seine Forschungen von außen aktivieren kann, sei es durch die Zeit-, die Freudenberg- oder die VW-Stiftung. Das IKG wird vorwiegend aus Drittmitteln finanziert. Die VW-Stiftung etwa schüttet insgesamt pro Jahr etwa 100 Millionen aus – wovon ein nennenswerter Anteil auch an Heitmeyers 10-Jahres-Projekt zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlicheit“ geht, ohne dass er offenbar dabei seine wissenschaftliche Autonomie aufgeben müsste. Das ist umso erstaunlicher, als es Sozial- und Geisteswissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften immer schwerer fällt, solche Drittmittel in einem bedeutenden Umfang zu akquirieren – zumal dann, wenn dabei so unbequeme Ergebnisse wie etwa das Einsickern rechtsradikaler oder antisemitischer Ansichten in die Mitte der Gesellschaft herauskommen.

Aber Heitmeyer kann Geldgeber offenbar immer wieder überzeugen, und das sichert ihm auch Unabhängigkeit von der Politik. So hat er sich im Laufe der Jahre sein eigenes Reich mit zwei Dutzend meist jungen Forschern geschaffen, einen Think-Tank der besonderen Art. Zugleich schafft er es, Spitzenforscher aus der ganzen Welt für den wissenschaftlichen Austausch in die ostwestfälische Provinz zu locken. Zöge nicht sein Name, kaum einer würde kommen.

Der Motivator: Heitmeyer gelingt es, anders als vielen autoritären Professorenstars an den deutschen Universitäten, eine Atmosphäre der Freiheit und Offenheit in seinem Institut zu sichern. Ein Schmuseladen ist das IKG nicht, aber insgesamt funktioniert es meist erstaunlich hierarchielos, wie an seinem Institut zu hören ist. Heitmeyer gibt seinen Doktoranden viel Freiheit, ihre Zeit selbst einzuteilen – Hauptsache, die Deadlines werden eingehalten und die Qualität ist am Ende in Ordnung, so drückt es eine seiner Mitarbeiterinnen aus. „Wilhelm“, wie er von manchen genannt wird, hat so ein Team von vielversprechenden jungen Wissenschaftlern um sich geschart, die er, trotz der vielfältigen Forschung an seinem Institut vergleichsweise intensiv betreut. „Es ist ein Geben und Nehmen“, sagt einer seiner jungen Kollegen. Wer sich mit dem Titel „Heitmeyer“-Schüler schmücken kann, hat es leichter im deutschen Wissenschaftsbetrieb.

Der Medienprofi: Heitmeyer ist ein Homo politicus. Er fördert und fordert den Austausch zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, genauer: die gegenseitige Verantwortung füreinander. „Wenn die Gewaltforschung sich der gesellschaftlichen Verantwortung entzieht, hat sie keinen Sinn“, verkündet er. Deshalb mischt er sich ein in öffentliche gesellschaftliche und politische Debatten – und Scheu vor den Medien hat er dabei nicht, im Gegenteil.

Heitmeyer macht eine geschickte, vielleicht vorbildliche Pressearbeit. Er weiß um die Zwänge und Bedürfnisse der Medien – und opfert diesen dennoch nicht seine wissenschaftliche Exaktheit. So lehnt er es ab, in Talkshows aufzutreten, gibt Interviews am liebsten live, da dann nichts mehr daran zu kürzen ist, und verschickt keine Pressemitteilungen, die das Zuspitzen und Verkürzen fast erzwingen.

Auch wenn die soziologische Fachsprache seiner Forschungen voller Fremdwörter den Austausch mit der Gesellschaft nicht gerade erleichtern, so weiß Heitmeyer die Dinge zugleich so zu übersetzen, dass sie auch Nichtexperten einsichtig sind. Dabei helfen ihm Kooperationen, etwa mit der Zeit, die seine „Deutschen Zustände“ regelmäßig vorab in gekürzter Form veröffentlicht – und der Suhrkamp-Verlag, der diese Reihe zugleich ausführlich für einen erschwinglichen Preis verlegt.

Heitmeyers Texte wollen angesichts ihres auch politischen Impulses von vielen gelesen werden – es reicht ihm nicht, nur Experten zu erreichen und ansonsten seine Bücher in Bibliotheken verstauben zu sehen.

Der Visionär: Schon die Gründung der IKG vor zehn Jahren, die nicht leicht durchzusetzen war, ist in sich selbst ein Beweis dafür, dass Heitmeyer visionäre Kraft besitzt. Denn wer hätte damals schon geahnt, welche Bedeutung eben gerade die Gewaltfrage heute haben würde.

Auch sein nächstes großes Projekt, ein Forschungsvorhaben zum Thema „Kontrolle der Gewalt“ zusammen mit dem Bielefelder Historiker Heinz-Gerhard Haupt, ist typisch heitmeyerisch: zukunftsweisend und sozial engagiert zugleich. Dazu passt, dass Heitmeyer, zusammen mit Kollegen unter anderem aus Paris, Harvard und Princeton, ein Online-Magazin über die neuesten Ergebnisse der Konflikt- und Gewaltforschung plant. Es soll auf Englisch erscheinen und jedem ohne Gebühren frei zugänglich sein soll.

Und die vielleicht ehrgeizigste Vision, die Heitmeyer anlässlich des 10-jährigen IKG-Jubiläums vorstellte: eine internationale Agentur für Gewaltforschung. Sie soll Konflikt- und Gewaltforscher gerade in den Ländern fördern, die vor solchen Eruptionen stehen, aber oft nicht das Geld oder die Freiheit haben, Forschung darüber auch zu betreiben. Heitmeyer ist eben auch ein Idealist im besten Sinne des Wortes. Und das klingt bei diesem Forscher gar nicht gestrig.