Ostdeutschland gibt es gar nicht mehr

25 Prozent bilden das „abgehängte Prekariat“ – 15 Prozent sind erfolgreiche „Leistungsindividualisten“. Die SPD debattiert die wachsenden sozialen Spaltungen in Ostdeutschland. Parteichef Kurt Beck fällt dazu nicht mehr ein als das Brandenburger Tor

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Im Herbst 2006 fegte ein Unterschichten-Tsunami über Deutschland hinweg. Die mediale Erregungswelle war als Armutsdebatte getarnt und hatte das ehrgeizige Ziel, am Rande unserer Gesellschaft eine scheinbar völlig unbekannte Spezies zu entdecken. Benutzt wurde dazu eine damals aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die herausgefunden hatte, dass die soziale Ungleichheit im Land wächst. Am unteren Ende des politischen Spektrums hatte die SPD-nahe Stiftung das sogenannte abgehängte Prekariat ausgemacht. 8 Prozent der Deutschen, also über 6 Millionen, werden zu diesen gesellschaftlichen Großverlierern gerechnet.

Der urplötzlich entdeckte Skandal ist heute wieder so gut wie vergessen. Gerade das reizte die Ebert-Stiftung und das Forum Ost der SPD, sich die Studie noch einmal vorzunehmen und die vielfältigen gesellschaftlichen Spaltungen mit besonderem Blick auf Ostdeutschland zu diskutieren. Prominentester Redner der gestrigen Veranstaltung in Berlin war Kurt Beck.

Eine geradezu ideale Wahl, hatte der SPD-Chef doch vorigen Herbst für sich in Anspruch genommen, erst den Anstoß zu der Debatte über die neue Armut in Deutschland gegeben zu haben; in einem Zeitungsinterview hatte er das Wort „Unterschicht“ fehlerfrei ausgesprochen. Den Verdacht von damals bestätigt Kurt Beck an diesem Montag eindrucksvoll: Der sozialdemokratische Vorsitzende benutzt das Armutsthema, um die SPD als Partei eines modernen Sozialstaats darzustellen – wirklich zu sagen hat er dazu nur wenig.

Beck langweilt die Zuhörer mit allgemeinen Floskeln über gesamtdeutsche Solidarität. Er schwört dem Solidarpakt Ost bis zum Jahr 2019 bedingungslose Treue. Er erinnert an die „besondere Probleme“, die 40 Jahre DDR hinterlassen hätten. Am Sonntagabend, so Beck, bei der Vorbereitung auf diese Rede, habe er auf dem Balkon der rheinland-pfälzischen Landesvertretung in Berlin gestanden und aufs Brandenburger Tor geblickt. Da sei ihm wieder in Erinnerung gekommen, wie das alles so gewesen sei vor 20 Jahren. „Dieses Gefühl dürfen wir im Alltag einfach nicht untergehen lassen.“ Dieses deplatzierte historische Pathos war schon der Höhepunkt einer nicht gehaltenen Rede über das abgehängte Prekariat im Osten.

Wie notwendig eine kluge Ostdeutschland-Rede des SPD-Vorsitzenden gewesen wäre, hatte die Tagung in ihrer fünfstündigen Debatte zuvor eindrucksvoll bestätigt. Richard Hilmer vom Meinungsforschungsinstitut Infratest hatte die Ergebnisse der Studie von 2006 mit besonderen Augenmerk auf Ostdeutschland aufbereitet. Es war alarmierend, was er zu berichten hatte: Das „abgehängte Prekariat“, zu dem im Westen nur 4 Prozent gehören, umfasst im Osten 25 Prozent der Bevölkerung. 67 Prozent der Ostdeutschen machen die gesellschaftlichen Veränderungen Angst. Jeder Zweite fürchtet, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Diesen Verlierern stehen am anderen Ebene des Spektrums immerhin 15 Prozent „Leistungsindividualisten“ gegenüber – 5 Prozent mehr als im Westen.

Der Ost-West-Konflikt habe jahrelang verdeckt, meinte der Soziologe Thomas Hanf, dass die ostdeutsche Gesellschaft in sich viel tiefer gespalten sei als die westdeutsche. Die Unterschiede zwischen Jungen und Alten, Männern und Frauen, entvölkerten Landstrichen in der Uckermark und Boomtowns wie Dresden und Jena sind so groß, dass der Soziologe Heinz Bude die Frage aufwarf, ob „Ostdeutschland“ überhaupt noch existiere. Seine Antwort: In der Realität nicht mehr – als politisches Konstrukt sei „Ostdeutschland“ jedoch weiter notwendig.