Theseus säuft Wodka

Der Autor Dimitré Dinev, Romancier bulgarischer Herkunft, hat eine Karriere vom Flüchtlingslager bis ins Wiener Burgtheater hingelegt: Dort hatte nun sein Stück „Das Haus des Richters“ Premiere

Theseus, der begehrt, Europäer zu sein, macht dafür überlieferungsgemäß die Sache mit dem Labyrinth

VON UWE MATTHEISS

Sind die Götter einmal tot, bleiben vom Mythos nur die Mesalliancen. Aus den Stieren und Königen der Minotauros-Sage werden dann mittelständische Firmenpatriarchen mit Erbfolgeproblem. Mit dem Ratgeber der örtlichen Industrie- und Handelskammer wäre in den meisten Fällen geholfen, siehe das Kapitel „rechtzeitig und richtig übergeben“. Am Wiener Akademietheater aber wird ein Stück daraus. Dimitré Dinev, ein österreichischer Romancier bulgarischer Herkunft, der für seinen Roman „Engelszungen“ gefeiert wurde, hat das Drama „Das Haus des Richters“ im Auftrag des Burgtheaters geschrieben.

Der Richter (Michael König) lässt für den einzigen Sohn ein perfektes Gefängnis bauen – perferkt, weil man sich nicht gefangen fühlt. Als Baumeister treten Daidalos (Martin Reinke) und Lehrling Iko (Daniel Jesch) auf, biertrinkend, mit anachronistisch kokettem Prolet-Habitus, gelegentlich Ostakzent. Damit folgt das Stück der Wiener Wirklichkeit, in der täglich eintreffende Baukolonnen aus dem Osten jetzt auch legal beschäftigt werden.

Der Sohn, der eingesperrt und hinter einer Maske verborgen ist, weil er doch eine Gefahr für die Gesellschaft sein soll (Dietmar König), wirkt etwa so bedrohlich wie Hannibal Lecter, nachdem er sich zum Vegetarismus bekehrt hat. Dinev markiert Vater und Sohn mit zwei absoluten Behauptungen – Papa unendlich gut, Sohn das unkorrigierbare Monstrum –, unterschlägt aber rigoros alle empirischen Daten, die das irgendwie belegen könnten. Das wirft auch die Frage auf, welches Recht denn dieser Richter spricht, welche Gewalt seinen Sprüchen Geltung verschafft. Wo und wie kann Sprache so mächtig werden, dass sie alle Welt überschreibt? Papa ist zwar anfangs im Fernsehen, aber das wird nicht weiter verfolgt. Wir landen also doch wieder beim Mythos, aber nicht unbedingt beim antiken. Man muss eine Menge totalitärer Alltagserfahrung filtriert haben, um die Macht des Sprechakts in diesem Ausmaß für denkbar zu erachten.

Ohne sich auf solche Überhöhung einzulassen, lässt Regisseur Niklaus Helbling die Aufführung „aus dem richtigen Leben“ erzählen. Aus gottgezeugten Helden werden Kleinfamilien, die sich in der fortschreitend dekonstruktivistischen Bühnenarchitektur, zwischen Kisten, Kästen und Gestellen selbst einmauern. Im bürgerlichen Vater-Mutter-Kind-Spiel kann man Theseus, Phädra und Ariadne entdecken. Es folgt der Niedergang der Minos GmbH aufgrund einer überzogenen Bauinvestition des Seniorchefs, seine drei Töchter Ada/Ariadne, Phädi/Phädra und Xeni/Xenodike haben nicht wirklich eine Zukunft, wissen aber noch nicht, wo Moskau liegt.

Stattdessen verschickt sie Dinev in einem zweiten Akt in den Athener oder – es geht ja schließlich darum, wo Europa beginnt – eher in den Belgrader Wald, wo sie sich einer mittelstandsfeindlichen Liebesunordnung hingeben. Die Mutter – Titania heißt jetzt Pasiphae – begehrt in einer Nacht gegen alle Jahre der Duldung auf. Barbara Petritsch gehört in dieser Rolle zu den wenigen auf der Bühne, die aus der Befragung ihrer Figuren etwas erfahren und das in eine Haltung gerinnen lassen.

Wo deus nicht geht, kommt der Dieb ex machina. Nach zweieinhalb Stunden endlich Theseus (wiederum Dietmar König) oder „vorerst reicht Thes“, der begehrt, Europäer zu sein. Dafür macht er überlieferungsgemäß die Sache mit dem Labyrinth, säuft Wodka in einem Zug, stellt der feinen minoischen Gesellschaft selbstbewusst den dreckigen Stiefel auf die Tischkante und zieht mit Phädi von dannen. In seiner Figur trifft das neue Europa auf das alte. Zumindest auf der Ebene der Fraternisierung findet zusammen, was zusammengehört.

Mit der Umschulung von Prosaautoren für die Bühne hat das Burgtheater abermals kein Glück. Die Artistik auf doppeltem Boden, voller Bezüge zur Theaterliteratur und zur Gegenwart, die Dinevs Prosa ihre Geläufigkeit gibt, bricht am anderen Timing der Bühne in eher lässliche Schmähs auf. Der Beifall galt dennoch dem Romancier – wer als Autor etwas gelten will, der kommt in Wien am Theater als Nobilitierungsinstanz schlecht vorbei. Der Beifall galt auch der kulturliberalen Vision von einem anderen Österreich, das eine Karriere, wie die Dinevs, vom Flüchtlingslager ins Burgtheater, als Möglichkeit enthält. Erst wenn sie nicht mehr beachtlich ist, wird sie wahr sein. Davon zeugt die immer gebrochene Ironie in Dinevs Prosa, die die Erinnerung an erlebte Gefährdungen aufgehoben hält.