Freiheit für alle Medikamente

Justizsenatorin von der Aue stellt Untersuchungsbericht zur Medikamentenversorung im Strafvollzug vor: Kontrolle fehlte vollständig, keine Nachweise über Arzneibestellung – Zentralapotheke geplant

VON PLUTONIA PLARRE

Es muss hart kommen, um einen Menschen wie Werner Heinrichs aus den Latschen zu hauen. Dazu hat der Ministerialrat im Laufe seiner langjährigen Prüfungstätigkeit für den Bundesrechnungshof und den Landesrechnungshof Brandenburg zu viel an Misswirtschaft von Behörden erlebt. Aber das, worauf Heinrichs in Berlin stieß, hat ihm fast die Sprache verschlagen: „Etwas Vergleichbares habe ich noch nicht erlebt“, sagte der 63-Jährige gestern fassungslos.

Im Auftrag der Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) hat Heinrichs eine Untersuchungskommission zur Medikamentenversorgung von Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt Moabit geleitet. Die Ergebnisse wurden gestern im Roten Rathaus vorgestellt. „Es gab überhaupt keine Kontrolle“, so Heinrichs Fazit. Im Klartext: Im Moabiter Knast herrschten Zustände, die in öffentlichen Krankenhäusern undenkbar sind: In Moabit waren 2.900 Medikamente als verschreibungsfähig aufgelistet – in den Krankenhäusern sind es im Schnitt nur 1.700. Nachweise über die Bestände in der Knastapotheke wurden schlichtweg nicht geführt. Es gab auch keine Duplikate der Bestellscheine.

Ebenso wenig waren die Rechnungen nachvollziehbar. Die Moabiter Gefängnisverwaltung habe immer wieder auf den Mangel hingewiesen, sei bei den verantwortlichen Ärzten aber auf taube Ohren gestoßen, sagte Heinrichs. Die Verantwortlichen in der Knast-Arztgeschäftsstelle hätten offenbar mit Rückdeckung der Senatsverwaltung für Justiz gehandelt. „Wenn ein Arzt zum Telefon greift und den Staatssekretär anruft, ist man als die Gefängnisverwaltung zweiter Sieger“, so Heinrichs. Wie lange das Ganze ging und wie groß der entstandene Schaden ist, vermochten weder er noch die Justizsenatorin zu sagen. Was sie am meisten vom Stuhl gehauen habe, sei, dass der Schlüssel zum Methadonschrank im Knast offen herumlag, sagte die Senatorin gestern.

Mit der Einrichtung der Untersuchungskommission hatte sie im Februar auf die vom RBB-Magazin „Klartext“ publik gemachte Medikamentenaffäre in der JVA Moabit reagiert. Die Frage, wie der organisatorische Missstand aufzuklären sei, hatte dazu geführt, dass von Aue, die erst seit November amtiert, den langjährigen Justizstaatssekretär Christoph Flügge (SPD) entließ. Flügge ist mit der leitenden Moabiter Anstaltsärztin verheiratet. Er soll eine detaillierte Medikamenten-Nachweisdokumentation für nicht praktikabel gehalten haben. Die Anstaltsärztin konnte wegen Krankheit von der Kommission nicht befragt werden. Sie geht Ende des Monats in Ruhestand.

Als Konsequenz aus dem Bericht will von der Aue eine grundlegende Neuorganisation der Medikamentenversorgung für den gesamten Strafvollzug herbeiführen. Die Vorschläge, die die Kommission in ihrem 3.000 Seiten dicken Bericht gemacht hat, sollen nun laut von der Aue zügig geprüft, erweitert und umgesetzt werden – insbesondere der Vorschlag, im neuen Haftkrankenhaus Plötzensee eine Zentralapotheke einzurichten, die alle Berliner Knäste mit Arzneimitteln versorgen könnte. Eine zentrale Verantwortung erscheine ihr sinnvoll, sagt von der Aue, um eine bessere Kontrolle zu gewährleisten und Unregelmäßigkeiten schneller aufklären zu können.

Unterdessen ermittelt die Staatsanwaltschaft weiter gegen fünf Beschäftigte des Moabiter Knastes. Die Beschuldigten stehen im Verdacht, aus der Gefängnisapotheke Medikamente für Privatzwecke abgezweigt zu haben. Ob die Beweise für eine Anklage ausreichen, ist aber mehr als fraglich. Die Beschuldigten haben bislang keine Angaben gemacht. „Klartext“ hatte eine anonyme Zeugin mit den Worten zitiert, ein Drittel der bestellten Medikamente ging an die Gefangenen, zwei Drittel an die Bediensteten. Diese Zeugin hat sich aber nie bei der Polizei gemeldet.