Der Ratzinger-Code

Es gilt das Wort der Bibel: In seinem Buch „Jesus von Nazareth“ gibt sich Papst Benedikt XVI. mit nichtchristlichen Orientierungssystemen gar nicht erst ab

Privilegierte Teilnahme an der geistlichen Schriftlesung eines Mannes, der im Inneren des Vatikans über den großen Geheimnissen brütet

VON BERT REBHANDL

Das Buch „Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Nationen“ müsste eigentlich auf allen Bestsellerlisten stehen, verspricht es doch nicht nur Rezepte für das internationale Gemeinwohl, sondern auch eine „offene“, also nichttotalitäre Form der Umsetzung. Aber wie es mit großen Lösungen meistens so ist, hat auch diese einen Haken: Es gibt sie nicht. Das Buch ist eine Fiktion, erfunden von den russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjew, der damit einen nicht geringen Autor in die Weltgeschichte einführte: Der Antichrist selbst hat „Der offene Weg zu Frieden und Wohlfahrt der Nationen“ geschrieben.

Für Joseph Ratzinger, als Papst Benedikt XVI., ist Solowjews Erzählung vom Antichrist ein zentraler Text. In seinem neuen, eben erschienen Buch „Jesus von Nazareth“ kommt er mehrmals darauf zurück. Dabei wird es eine nur geringe Rolle spielen, dass der Antichrist bei Solowjew zwischendurch einen Ehrendoktor von der Universität Tübingen bekommt, also jener Hochschule, die in Deutschland in erster Linie mit den liberalen theologischen Tendenzen assoziiert werden kann, gegen die Joseph Ratzinger nach seinem Aufstieg zum Chef der Glaubenskongregation immer wieder vorging. Die Geschichte vom Antichrist ist für ihn auch deswegen so interessant, weil sie die sehr verführerische Vision eines weltlichen Comebacks des Christentums enthält, in einem vereinigten und integrierten Europa. Der Papst büßt dabei allerdings an Macht ein, und für Benedikt XVI. heißt das in erster Linie: Die katholische Kirche verliert ihr Wahrheitszentrum. Das Jesus-Buch, das seit Montag in den Buchhandlungen ist, stellt dabei eine interessante Kompromissbildung dar: Der Papst hat es als Privatmann geschrieben, als Theologe, der in eigener Sache und nicht für die Gesamtkirche (und schon gar nicht „ex cathedra“) spricht. Man muss aber davon ausgehen, dass das lesende Publikum das ein wenig anders sieht. Der Text gehört Ratzinger, der Bestseller aber gehört dem Papst, womöglich dem „Überpapst“ (Vanity Fair). Dabei ist durchaus rätselhaft, was die „materiell reiche und geistlich verwirrte Bundesrepublik“ (ebenfalls Vanity Fair) in dem Jesus-Buch finden soll. Denn Ratzinger bietet in diesem ersten von zwei geplanten Bänden keineswegs einen Josephsweg zu den Geheimnissen des Daseins, sondern eine sehr fromme Deutung des jüdischen Propheten Jesu als Sohn Gottes.

Dabei macht er sich nicht viel Mühe mit Vermittlungsversuchen, wie zum Beispiel noch Hans Küng (der vor das „Christ sein“ einen wortreichen Durchgang durch die Philosophie der europäischen Neuzeit gestellt hatte, an dessem Ende er die Frage „Existiert Gott?“ frohen Mutes bejahen konnte) oder Karl Rahner (der seinen „Grundkurs des Glaubens“ aus der Transzendentalphilosophie heraus entwickelte). Bei Joseph Ratzinger gilt das Wort der Bibel, ergänzt durch die Texte der Kirchenväter. Über diese Daten gebietet der ehemalige Professor, der in Bonn, München, Regensburg und für eine Weile selbst in Tübingen gelehrt hat, mit der Souveränität eines lebenslangen Schriftlesers. Was die neuere Bibelwissenschaft über die Heiligen Schriften herausgefunden hat, bezieht er immer wieder ein, es ist für ihn aber nicht der eigentliche Gegenstand der Auseinandersetzung.

Ratzinger betreibt, was er unter Rückgriff auf amerikanische Schulen eine „kanonische Exegese“ nennt – bei jeder einzelnen Stelle der Bibel hat er deren ganzen Text im Hintergrund, seine Lektüre schafft Ordnung in einem riesigen Verweiszusammenhang, der im Detail häufig rätselhaft sein mag, im Panorama aber zur Heilsgeschichte wird. So arbeitet sich Ratzinger durch die großen neutestamentlichen Themen: die Botschaft vom Reich Gottes, die Bergpredigt, die Gleichnisse, die Selbstaussagen Jesu als „Menschensohn“, „Sohn Gottes“, „Ich bin es“.

Dabei lässt Ratzinger das Christentum unentwegt mit sich selbst sprechen. Es erklärt sich in einer Binnensprache, die keinen Dialog mit anderen Systemen der Orientierung sucht, auch nicht mit der abendländischen Vernunfttradition, die Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede in selbstbewussten Worten für das Christentum reklamiert hatte. Wie sehr das Jesus-Buch in seiner eigenen Begrifflichkeit gefangen ist, wird an Stellen deutlich, an denen konkurrierende Deutungsmodelle wie die Naturwissenschaften auftauchen, nicht als Themen der Auseinandersetzung, sondern als unbewusste Gegenbilder, die doch ihre Spuren in der Sprache hinterlassen: „Denn in der von Sünde gezeichneten Welt ist das Schwergewicht, die Gravitation unseres Lebens, von der Verhaftung an das Ich und das Man gekennzeichnet, die aufgebrochen werden muss auf eine neue Liebe, die uns in ein anderes Schwerefeld versetzt und uns so neu leben lässt.“

Das Schwerefeld, das um dies Buch von Joseph Ratzinger entstanden ist, hat allein der Papst Benedikt XVI. geschaffen. Hier geht es nicht um eine Rede über das Christentum an die Gebildeten unter dessen Verächtern, sondern um privilegierte Teilnahme an der geistlichen Schriftlesung eines Mannes, der im Inneren des Vatikans über den großen Geheimnissen brütet: der Ratzinger-Code.

Joseph Ratzinger: „Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung“. Herder, Freiburg 2007, 447 Seiten, 24 Euro