„Die meisten Muslime sind halt konservativ“

Der neue Koordinierungsrat vertritt die übergroße Mehrheit der organisierten Muslime, sagt Mounir Azzaoui. Er hat bei den Grünen einen „Arbeitskreis der Muslime“ gegründet und meint: Es gibt schon jetzt einen europäischen Islam

MOUNIR AZZAOUI, 29, ist freier Politikberater. Von 2001 bis 2006 war er Pressesprecher beim Zentralrat der Muslime. Kürzlich hat er als Mitglied der Grünen in Nordrhein-Westfalen den „Arbeitskreis Grüner Muslime“ mitbegründet, dem bisher 25 Mitglieder angehören. In der „Islam-Konferenz“ von Wolfgang Schäuble wirkt er außerdem in der Arbeitsgruppe zu „Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis“ mit.

taz: Herr Azzaoui, wen repräsentiert der neu gegründete „Koordinierungsrat der Muslime“ eigentlich?

Er vertritt etwa 70 bis 80 Prozent der Moscheegemeinden in Deutschland. Es gibt Schätzungen, wonach etwa 15 Prozent aller Muslime in Deutschland Mitglied in einer Moscheegemeinde sind. Das sind aber nicht alle regelmäßigen Moschee-Besucher: Wenn man die dazuzählt, kommt man auf etwa 30 Prozent – davon geht Innenminister Schäuble aus. Und die Ruhr-Uni in Bochum hat eine neue Studie vorgelegt, wonach ungefähr die Hälfte aller Muslime in Nordrhein-Westfalen einen Bezug zu einer Moschee hat und zumindest bei Hochzeiten oder in Trauerfällen auf deren Infrastruktur zurückgreift. Wenn man dies auf die Bundesebene hochrechnet, vertritt der neue Koordinierungsrat schätzungsweise über eine Million Muslime.

Beansprucht der Koordinierungsrat denn nicht, für alle 3,3 Millionen Muslime in Deutschland zu sprechen?

Manche muslimische Verbandsvertreter haben in der Vergangenheit diesen Anspruch erhoben. Inzwischen hat sich wohl die Einsicht durchgesetzt, dass das nicht haltbar ist. Die Zahl geht auf eine Schätzung der Migranten aus Herkunftsländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit zurück. Sie ist problematisch, da damit auch nicht religiöse Migranten vereinnahmt werden können.

Ihr Parteikollege Volker Beck findet, der Koordinierungsrat müsse alle Muslime vertreten – auch die säkularen. Sonst hätte er eine konservative Schlagseite. Was sagen Sie dazu?

Die meisten Muslime, die Moscheen besuchen, sind nun mal religiös-konservativ. Und was ist eine Religionsgemeinschaft? Nach deutschem Recht ist das ein Zusammenschluss von Personen, welcher sich der Glaubensverwirklichung widmet. Das trifft auf jede Moschee zu – und logischerweise auch auf einen Zusammenschluss von Moscheegemeinden. Nach dem Religionsverfassungsrecht spielt es dabei keine Rolle, wie groß eine Gruppe ist, um als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden. Und es spielt auch keine Rolle, ob sie nur einen Teil einer größeren Glaubensgemeinschaft repräsentiert.

Warum ist die liberale Strömung der Aleviten nicht im Koordinierungsrat vertreten?

Die Distanz zwischen Sunniten und Schiiten auf der einen und Aleviten auf der anderen Seite beruht auf Gegenseitigkeit. Beide Gruppen haben keinen gemeinsamen theologischen Nenner. Aber die Aleviten vertreten ihre Interessen erfolgreich selbst: In NRW sind sie als Religionsgemeinschaft anerkannt und werden dort auch ihren eigenen Religionsunterricht bekommen.

Der Sprecher des neuen Koordinierungsrats, Ayyub Köhler, hat in der Zeit gesagt, er unterstütze einen „nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht“. Was sagen Sie dazu?

Nur der Schwimmunterricht ist für einige muslimische Eltern ein sensibler Bereich. Auf jeden Fall sollte sichergestellt werden, dass die Schüler Schwimmen lernen. Und wenn Eltern Angst haben, ihre Töchter auf Klassenfahrt zu schicken, dann könnte man einer solchen Mutter ja auch anbieten, mal mitzufahren. Man sollte hier einfach etwas Fingerspitzengefühl an den Tag legen und nicht jedes Mal gleich die „islamische Parallelgesellschaft“ beschwören. Es kommt zudem eher selten zu solchen Konflikten. Alle Recherchen zeigen, dass die größten Integrationsprobleme in der Schule mit Sprache und gewalttätigem, machohaftem Verhalten von Jugendlichen zu tun haben.

Was sagen Sie zu Eltern, die ihre Töchter schon im jungen Alter drängen, ein Kopftuch zu tragen?

Viele muslimische Eltern sind durch die Kopftuchdebatte der letzten Jahre noch sensibler geworden dafür, dass es keinen Zwang zum Kopftuch geben darf. Aber es gibt auch junge Mädchen, die schon in der fünften Klasse das Kopftuch anziehen – nicht, weil sie von ihren Eltern dazu gedrängt werden. Sondern weil sie von Freundinnen erfahren, dass ein späteres Tragen oftmals zu Unverständnis und Diskussionen führt.

Würden Sie wollen, dass Ihre Tochter ein Kopftuch trägt?

Es würde mir zunächst darum gehen, muslimische Werte zu vermitteln. Der Rest ergibt sich dann – oder auch nicht.

Sie sind Mitglied der Grünen und haben den „Arbeitskreis Grüner Muslime“ mitbegründet. Wo sehen Sie Schnittmengen zwischen Ihrer Religion und grüner Politik?

Für mich sind die Grünen die einzige Partei, die sich in den letzten Jahren glaubwürdig für Minderheiten – und damit auch für Muslime – eingesetzt hat. Zudem ist der Umweltschutz für mich ein sehr wichtiges Thema.

Gibt es nicht auch Konfliktpunkte, etwa in der Haltung zur Homosexualität? Die Grünen plädieren ja auch für eine Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften. Gläubigen Muslimen muss das doch ein Graus sein!

Sie meinen, es gebe da ein Spannungsverhältnis zwischen politischem Selbstmord und Exkommunion? (lacht) Zum Glück kann man als Muslim ja nicht exkommuniziert werden. Nein, im Ernst: Da gibt es in der Tat ein Spannungsverhältnis. Und wir möchten mit unserem Arbeitskreis dazu beitragen, dass man seine religiöse und politische Identität bei den Grünen unter einen Hut bringen kann.

Muslime in Deutschland sollen ja oft Stellung nehmen zum Terror, der im Namen des Islams begangen wird. Wie finden Sie das?

Diese Fragen sind legitim – und wir als Muslime stehen in der Verantwortung, dazu offensiv Stellung zu nehmen. Manchmal bin ich aber etwas verbittert, wenn ich sehe, wie versucht wird, eine Kluft zwischen Islam und Westen herbeizureden. Statt zu sagen: Der Terror ist kriminell, und er trifft auch Muslime.

Viele Muslime sind vom Islam ihrer Herkunftsländer geprägt. Gibt es schon einen spezifisch europäischen Islam?

Ich denke schon. Das kann man doch jetzt schon an Moschee-Neubauten sehen. Am Anfang gab es die importierte Moschee, die praktisch eine Kopie von Vorbildern aus der Heimat war. Mittlerweile gibt es die adaptierte Moschee, die Elemente aus beiden Kulturkreisen verbindet. Und bald wird es sicher auch die innovative Moschee geben, die ohne Minarett und Kuppel auskommt – auch wenn sich viele Muslime das noch schwer vorstellen können. Es geht doch darum, das Wesen der Religion in die Zukunft zu tragen. Oder, um es mit Goethe zu sagen: Man muss die Glut aus der Asche der Vorfahren nehmen.

Und wie sieht es mit der inneren Reform aus?

Hier gibt es Ansätze – etwa von Muslimen in den USA –, welche weiter vorangetrieben werden müssen. Dazu gehört etwa eine fundierte theologische Begründung für echte Religionsfreiheit. Auch im Bereich Pluralismus, Minderheitenrechte und Demokratie muss noch einiges aufgearbeitet werden. Das braucht Zeit, und dabei dürfen die politischen und ökonomischen Missstände in der sogenannten islamischen Welt nicht außer Acht gelassen werden.

Dass Muslime in Deutschland das Grundgesetz anerkennen und die Gesetze achten, versteht sich von selbst. Aber es wäre falsch, die internationale Reformdebatte auf dem Rücken der Muslime hier austragen zu wollen. Dafür fehlt ihnen schlicht das theologische Rüstzeug. Deutsche Muslime werden erst dann substanziell zu dieser Debatte beitragen können, wenn deutsche Islam-Gelehrte an deutschen Universitäten ausgebildet worden sind.

INTERVIEW: DANIEL BAX