Ohne Bild und Ton

Um etwas über die Welt zu erfahren, lässt sich Karl Hellbardt in die Hände schreiben. Der 76-Jährige ist taubblind und lebt allein

VON KATHLEEN FIETZ

Freitags kann man die Uhr nach Karl stellen. Pünktlich um Viertel nach eins steht er vor der alten Scheune an der Hauptstraße des kleinen Dorfes mitten in Brandenburg und wartet. Das blaue Käppi, das die kurzgeschnittenen grauen Haare versteckt, wirft Schatten auf sein Gesicht. Er stützt sich auf seinen Stock, blickt geradeaus und zieht gemächlich an seiner Zigarre. Neben ihm im Gras stehen eine braune Ledertasche und ein Kasten mit leeren Mineralwasserflaschen. Jeden Freitag steht Karl an dieser Ecke. Manchmal halten Autos an, Fremde, die nach dem Weg in die Stadt fragen. Sie bekommen keine Antwort. Karl zieht ruhig an der Zigarre und blickt leicht lächelnd durch sie hindurch. Kaum zu sehen das kurze Zucken in seinem Gesicht, die Irritation in seinen hellen, blauen Augen, als er den Luftzug des haltenden Wagens spürt.

Karl Hellbardt* ist taubblind. Er kam gehörlos zur Welt, die Erblindung begann vor 25 Jahren, da war er 50. Freitags ist Karls Einkaufstag, und er erwartet „Birgits Minilädchen“, den fahrenden Supermarkt. Der ist heute zehn Minuten zu spät. Endlich biegt der Bus um die Ecke und hält einige Meter neben Karl. Der tastet nach seiner Tasche und dem Wasserkasten. An der Vibration des Asphalts, dem Kribbeln unter den Schuhsohlen, am Geruch der Abgase und dem Luftzug kann er den Kleinbus von anderen Autos unterscheiden. Das kann kein Sehender oder Hörender nachfühlen, wahrscheinlich auch kein Blinder oder Gehörloser. Taubblindheit ist nicht einfach die Addition beider Sinneseinschränkungen, es fehlt die Kompensation des einen durch den anderen Sinn. Blindheit trennt von den Dingen, Gehörlosigkeit von den Menschen, lautet ein Sprichwort.

Birgit Wißmer kurbelt den Fensterladen hoch, steigt aus und nimmt Karls Hand. Aufgeregt klopft er ihr auf die Schulter und sagt laut: „Hallo, Birgit!“ Das R rollt er lange und laut. Seine Stimme kommt tief aus dem Bauch. Es braucht Gewöhnung, ihn zu verstehen. Birgit Wißmer kennt ihn seit zehn Jahren. Da wurde der letzte Konsum in dem brandenburgischen Dorf geschlossen. Karl bestellt ein Pfund Tomaten. „Na, du paffst mir mit deiner ollen Zigarre schon wieder den ganzen Laden ein“, scherzt sie. Er lacht, als könne er sie hören. „Schöne Weintrauben“, schreibt sie ihm in einzelnen Buchstaben in die Handfläche und hält sie ihm hin. Er befühlt die Trauben kurz und nickt. Sauerfleisch, einen WC-Stein, Bonbons, drei Päckchen Zigarren und einen neuen Kasten Wasser. 20,85, schreibt sie ihm in die Hand, vergisst das Komma. Karl lacht laut, so viel Geld habe er nicht. Seit 60 Jahren lebt Karl auf einem Hof. Er will seine Wohnung nicht verlassen. Der Hof ist sein Zuhause, hier kennt er alles so, dass er sich ohne Hilfe orientieren kann.

Geboren wurde er im Nachbarort, 1932 zog die Mutter mit ihm und den drei Schwestern hier ins Dorf. Die Kriegszeit hat Karl in Halle auf der Gehörlosenschule verbracht. Wäre er damals auch schon blind gewesen, hätte es keine Schule für ihn gegeben, denn Taubblinde galten bis in die 80er-Jahre als bildungsunfähig. Fragt man ihn nach dieser Zeit in Halle, buchstabiert er nur „Prügel“ in die Hand. Später zeigt er auf die Narbe auf seiner Stirn. Die stammt von der Explosion in einer Munitionsfabrik, in die er kurz vor Kriegsende zum Arbeitseinsatz geschickt wurde. Als der Krieg vorbei war, lag er immer noch im Krankenhaus. Später ging er nach Leipzig, um Sattler und Schuhmacher zu lernen, 1948 kam er zurück. Ein Großbauer heuerte ihn als Sattler an, und er zog in die Zweizimmerwohnung auf dem Hof, wo er später mit seiner Frau Hilde und den drei Kindern lebte. Der Großbauer ist längst weg, über Nacht in den Westen gegangen, als die Zwangskollektivierungen in der jungen Republik immer mehr zunahmen. Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, kurz LPG, übernahm Haus und Hof, es gab auch Arbeit für Karl. So blieb er hier.

Hämmern dringt aus dem selbstgebauten, mit Knöterich bewachsenen Holzschuppen. Karl steht an seinem Werktisch und baut an einer Holzbank. Mit einem Zollstock prüft er, ob die Beine alle gleich lang sind. Er misst ein Bein aus, hält die Markierung am Zollstock fest und vergleicht damit das nächste. Hammer, Zange, Nägel, Winkelmesser, alles liegt geordnet auf der Werkbank. Da Karl gehörlos geboren wurde und erst später erblindete, konnte er eine Selbstständigkeit entwickeln, die taubblind Geborene nie erreichen.

Die Ursachen der Krankheit sind vielfältig. In Karls Generation ertaubten und erblindeten Menschen oft an Mittelohr-, Bindehaut- oder Hirnhautentzündungen, in den 60er-Jahren war die häufigste Ursache eine Rötelninfektion der Mutter während der Schwangerschaft. Als Karl immer schlechter sehen konnte, ließ er sich untersuchen. Man stellte das Usher-Syndrom fest, durch das Gehörlose aufgrund einer Netzhautdegeneration im Laufe ihres Lebens langsam erblinden. Zwischen drei und fünf Prozent der Schüler an Gehörlosenschulen sind davon betroffen. Die Krankheit beginnt mit Nachtblindheit, das Gesehene wird unscharf, die Unterscheidung von Farben fällt schwerer. Später verengt sich das Sehfeld immer mehr zum sogenannten Tunnelblick, in den meisten Fällen folgt die völlige Erblindung.

Karl verlässt den Hof selten, alle zwei Wochen geht er zum Friseur, und manchmal besucht er die Reineckes, die nur drei Häuser entfernt von ihm wohnen. Dora Reinecke ist 75 und mit Karl aufgewachsen, sie kann viel von früher erzählen. Von Karls Vater, der in Stalingrad gefallen ist, von seiner Mutter, die später mit der jüngsten Tochter und einem neuen Mann nach Hamburg zog. In dem dunklen Wohnzimmer mit niedriger Decke sitzt Dora Reineckes Mann. „Kein Fernsehen, ich kann mir so ein Leben nicht vorstellen“, sagt Otto Reinecke. Dumm sei Karl nicht, von allen hier im Dorf wisse er die Geburtstage. Seine Frau lächelt, auch als ihr Mann leise über die heutigen Zeiten schimpft. Nichts mehr los im Dorf, früher gab es wenigstens einen Konsum, da konnte man sich immer treffen. Nichts mehr da. Die LPG hat hier früher alle ernährt, da musste keiner hungern. „Betrogen vom Leben“, sagt er. „Ja betrogen, das ist der Karl“, fügt er leise hinzu.

Dora Reinecke versteht, was Karl sagt. Ihre Fragen und Antworten schreibt sie in einzelnen Buchstaben in seine Handfläche. Taubblinde haben verschiedene Möglichkeiten, zu kommunizieren. Beim Lormen, einem Handalphabet, das nach dem taubblinden Erfinder Hieronymus Lorm benannt wurde, hat jeder Buchstabe einen Platz auf der Handinnenfläche. Die Wörter werden durch unterschiedliche Berührungen in die Hand buchstabiert. Die Vokale sitzen auf den Fingerspitzen, viele der Konsonanten in der Handinnenfläche. Aber Karl hat das Lormen nie erlernt, es gibt auch niemanden in seiner Umgebung, der sich so mit ihm unterhalten könnte. Eine andere Form des Mitteilens ist die taktile Gebärdensprache, dabei tastet der Taubblinde die Gebärden seines Gesprächspartners ab. Doch Karls Frau war die Einzige, die so mit ihm sprechen konnte. Früher hat Karl von den Lippen gelesen, aber seitdem er völlig erblindet ist, bleibt nur das Schreiben der einzelnen Buchstaben, und das braucht Zeit.

Zeit hat Traude Zebunke wenig, wenn sie Karl am Mittag das Essen auf Rädern bringt. Zu wenig Zeit, um all seine Fragen zu beantworten. Karl will wissen, was im Dorf passiert. Ob wieder gegen die geplante Autobahn protestiert wird. Ob die Nachbarin ihr Kind schon hat. Was Traude Zebunke in den paar Minuten am Mittag nicht schafft, muss ihm abends seine Schwester erzählen. Sie wohnt im Nachbardorf und kommt jeden Tag mit dem Fahrrad, bringt das Abendessen und macht sauber, was Karl an seinem Putztag „übersehen“ hat. Die Geschwister scheinen ihre eigene Sprache zu haben. Eng stehen sie beieinander, sie schreibt kaum Buchstaben in seine Hand. Er redet laut und aufgeregt, sie berührt ihn am Oberkörper, klopft auf seinen Brustkorb, hält seine Hand. Karl ist darauf angewiesen, Neuigkeiten aus dem Dorf und der Welt so durch die Augen und Ohren anderer zu erfahren. Seine Fingerkuppen sind von der handwerklichen Arbeit zu rau und schwielig, um die feinen Punkte der Blindenschrift zu ertasten. Was er erfährt, ist eine Welt in Stichworten, vollständige Sätze oder Differenzierungen kosten zu viel Zeit. Terroristen sind böse, Hartz IV ist schlecht und früher, vor der Wende, sei so einiges besser gewesen. Dazwischen gibt es nichts.

Jeden Morgen um neun steht Karl auf, dann frühstückt er. Wenn die Zeiger seiner großen Küchenuhr, die er anfassen kann, auf 12 Uhr stehen, wartet er auf das Essen auf Rädern; nach seinem Mittagsschläfchen kocht er sich pünktlich um 15 Uhr seinen Kaffee. Um sechs am Abend kommt seine Schwester. Alles ist festgelegt, zum Ritual geworden. Zwischen den festen Zeiten werkelt er in seinem Schuppen: beult den kaputten Spaten aus, baut einen Schemel für seine Schwester, damit sie beim Fensterputzen auch in die obersten Ecken kommt, oder er hackt Holz in akkurate, dünne Scheite. Dann geht er durch den Garten, wo er jeden Strauch, jeden Pfad und jeden Baum kennt. Prüft, was blüht, was geerntet werden muss, verscheucht im Sommer die Vögel aus den Obstbäumen. Er spürt sie an der Schwingung in der Luft, wenn sie in großen Schwärmen den Garten ansteuern. Donnerstags wird geputzt, sein Einkaufstag ist der Freitag. Am Samstag wird gebadet, der Sonntag ist zum Ausruhen da. Karl braucht die Ordnung der Zeit wie die Ordnung der Dinge, um sich zurechtzufinden in der Welt der Hörenden und Sehenden.

In Karls kleinem Wohnzimmer hängen viele alte Fotografien an der Wand: Karl als Kind in Lederhosen. Karl als junger, groß gewachsener Mann mit dunklen Haaren und hellen Augen, seine Hand ruht auf Hildes Schulter, die im Brautkleid auf dem Stuhl vor ihm sitzt. Auf dem Hof hatte er sie nach dem Krieg kennengelernt, ein Flüchtlingskind aus Ostpreußen, gehörlos wie er. 1960 heirateten sie in der Dorfkirche mit einem Gebärdendolmetscher. Sie blieben in der kleinen Wohnung, auch als die drei Kinder kamen, alle hörend und sehend. Hilde starb vor 15 Jahren an Krebs, da war Karl schon fast blind. Gut und fleißig sei sie gewesen, die Hilde. In der alten Vitrine stehen neuere Bilder von seiner Tochter mit Mann und Kindern. Fotos für Besucher, die selten kommen. Mit den Söhnen gab es viel Streit, sagt er, aber das werde jetzt besser. Die Tochter komme ab und zu vorbei, hole ihn immer an Heiligabend.

Den zweiten Weihnachtsfeiertag verbringt er jedes Jahr bei den Müllers, einer Familie mit zwei Kindern, die jedes Wochenende aus Berlin kommt. Sie kauften den Hof vom Sohn des Großbauern, der ihn nach der Wende zurückbekam. Karl behielt seine kleine Wohnung, die Müllers bauten ihm ein Bad ein. Er bekam eine neue Klingel. Wenn man sie drückt, blitzt seine Wohnung mehrmals hell auf. Die Klingel gibt es immer noch, aber inzwischen kann Karl auch nicht mehr hell und dunkel unterscheiden. Ist es wirklich dunkel, wenn man blind ist? Ist es leise, wenn man nichts mehr hört? Karl zieht die Stirn kraus, weiß mit den Fragen nichts anzufangen. Er sieht nichts, und er hört nichts. Punkt. Doch später erzählt er von Schatten, die er fühlt, und Schwingungen und Geräuschen, die er spüren kann. Auf die Frage, ob er ein schweres Leben hatte, hebt er einen imaginären schweren Gegenstand hoch und schüttelt verwundert den Kopf. Schwer? Wieso? Ein paar Unfälle ja, zwei Finger verloren, weil er nicht gehört hatte, dass einer der Bauern die Kreissäge angeschaltet hatte. Aber so schlimm sei das alles nicht gewesen. Er erzählt von früher, den Reisen mit Mutter und Schwester; sein Schwerbehindertenstatus ermöglichte ihm ab Ende der 70er-Jahre, seine Mutter und seine Schwester in Hamburg zu besuchen und mit ihnen zu reisen. Er zeigt auf den Plastikstier auf der Vitrine, aus Spanien sei der, da gebe es hübsche Frauen. Kaffee, Zigarren und Parfüm für seine Frau habe er geschmuggelt. Da hat er noch ziemlich gut gesehen, aber beim Zoll hat er seine Blindenbinde umgebunden und ist nie kontrolliert wurden. Er tippt sich an den Kopf und lacht verschmitzt.

Abends genießt Karl auf der Bank vor seiner Wohnung die letzte Zigarre des Tages. Auf der kleinen Holzbank unter der großen Kastanie. Sitzt, lächelt, legt die Stirn kraus, als wenn er über etwas Wichtiges nachdenken würde, und redet manchmal mit sich selbst. Ab und zu lässt er seine Stimme laut vibrieren. Wenn die Müllers Besuch haben und im Garten sitzen, setzt er sich manchmal dazu. Er weiß schon, woher sie kommen. Bei jedem ankommenden Auto auf dem Hof befühlt er das Kennzeichen. Karl schreibt in ihre Hände: Wie lange hier? Was heute essen? Ihr verheiratet? Dann erzählt er von der DDR und aus seinem Leben, schimpft über Hartz IV und Kohl, der an allem schuld sei. Oft verstehen die Gäste die laute, rollende Stimme nicht. Dann schreibt er. Mit den Fingern auf den Tisch oder in die fremden Hände, manchmal mit einem Stock in den Sand.

* Name geändert

KATHLEEN FIETZ, 33 Jahre alt, lebt als freie Journalistin in Berlin