Dreckige Poesie des Alltags

Weg mit dem großen Spektakel, her mit den Situationen! Das war der Schlachtruf der Situationisten. In Basel lässt sich gut nachvollziehen, wie diese Antikunstbewegung selbst zum Spektakel wurde

Das Glück wurde im Leben gesucht. Es wurde getrunken, geraucht, debattiert

VON MATTHIAS BUSCHLE

„Ne travaillez jamais“ – nie arbeiten! Mit diesem Slogan wird für die Ausstellung „Die Situationistische Internationale (1957–1972)“ im Basler Museum Jean Tinguely geworben. Das Museum führt den Untertitel: „Ein Kulturengagement von Roche“; Roche, das ist der international tätige Chemie-Multi Hoffmann-La Roche. Ironie des Schicksals oder Fügung, dass dort jetzt die Situationistische Internationale (SI), diese radikal antibürgerliche, antikapitalistische Antikunstbewegung ausgestellt wird?

Die Ausstellung zeigt vor allem eines: Die Situationisten tappten in ihre eigene Falle. Wer, wie sie, proklamiert, keine Kunst mehr zu machen, macht einfach doch welche, eine Antikunstbewegung macht halt doch Kunst. Und die Museen, die sammeln einfach alles – und stellen es auch aus. Nun zeigt einfach das Tinguely-Museum die Pamphlete, Collagen, Filme, Bilder und all die anderen Überbleibsel der SI und die ihrer Vorgänger-Bewegungen. Man gibt sich mit der Ausstellung Mühe, will den Situationisten gerecht werden.

So wird versucht, mit der Gestaltung einen revolutionären Touch hinzukriegen, Ausstellungstexte werden à la Flugblatt auf die Wand geklebt. Das ist gesucht – und sieht auch noch so aus. Oder das wunderschöne Plakat: Der Spruch von Guy Debord „Ne travaillez jamais“ wurde dafür in Airbrush nachgezeichnet. Das Plakat ist wirklich gelungen, doch wird nicht nur dadurch der SI das Dreckige, das Unangenehme, Querliegende genommen. Vielmehr: Es ging ihr – mit der Zeit – flöten. Aber ein Verdienst der Ausstellung bleibt, sie zeigt mal wieder die Bewegung und es gibt wieder einen neuen umfangreichen Katalog – dieser lohnt. Denn: Die SI ist im Wesentlichen einfach schon ein Papiertiger – lesen und blättern reicht eigentlich, um eine Ahnung zu bekommen.

Nicht der Aufruf der Plakate zum Müßiggang rief nun (in der Schweiz!) Proteste hervor, stattdessen tat dies eine Postkarte von 1962, eine Collage von Dieter Kunzelmann, dem alten Berliner Kommunarden. Zwei Abbildungen der klassischen christlichen Kunst sind auf ihr aufgeklebt: ein barocker Erzengel Michael und eine gotische Kreuzigung. Verbunden sind sie mit einem Bericht einer Lokalzeitung und einer ausgeschnittenen Headline. Zusammen bilden sie die Überschrift „Lübke ruft Christen zur Unzucht mit Hühnern auf“. Die lokale Basler Gratis-Zeitung Baslerstab regte sich über dieses Werkchen dermaßen auf, dass sie es auf der ersten Seite abdruckte, mit der Headline „Gotteslästerung im Museum“. Eigentlich eine lustige Geschichte, aber leider ist es auch ein Zeichen für den Untergang der Situationisten. Ihre Würze ging verloren, es bleibt der fahle Geschmack: Was von ihnen wohl übrig blieb, ist „Sex sells“ – darüber regt man sich aber immerhin noch auf.

Das wollte die SI, aber sie wollte auch mehr: „Wir meinen zunächst, dass die Welt verändert werden muss. Wir wollen die größtmögliche emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft und des Lebens, in die wir eingeschlossen sind.“ „Dépassement de l’art“, das war es, was sie wollte: die Bewältigung, das Überholen, die Überschreitung und Auflösung der Kunst. Warum? Weil die Kunst mit den Verhältnissen und dem Kapital paktiert. Kunst war (und ist) Teil des großen Spektakels, geleitet von einigen wenigen. Die SI war die Kunstbewegung der Negation – mit der gesteckten Absicht, das Leben zu verändern, für alle, nicht nur für die, die es sich leisten können. Also: Weg mit dem Spektakel, her mit den Situationen. Weg mit der Langeweile, her mit einer neuen Poesie des Alltags. Schafft neue Situationen für neue Menschen!

Die SI gründete sich – aus diversen anderen „Internationalen“ hervorgehend – am 28. Juli 1957 im norditalienischen Cosio d’Arroscia. Kopf der Bewegung war der in Paris lebende Guy Debord. Er schrieb auch das Gründungsmanifest, den „Rapport über die Konstruktion von Situationen“. Die Bewegung hatte bis zu 72 Mitglieder, unter anderem aus England, Frankreich, Deutschland, Holland, Nordamerika und Nordafrika.

Die Methoden der Bewegung waren das Umherschweifen, das Auffinden von Vorgefertigtem und dessen Umnutzen, das Neubewerten. Industriekunst wurde gekauft und überarbeitet, Städte wurden erwandert und die Unorte, an denen sich das Leben abspielt, erkundet. Das Glück wurde im Leben gesucht. Und deshalb: Es wurde auch getrunken, geraucht und debattiert. Das Organ der Bewegung war die Zeitschrift Internationale Situationiste, von der bis 1969 zwölf Nummern erschienen. In ihnen findet sich revolutionärer Ernst mit abgründigem Witz verpaart. So konnte es schon sein, dass sich dort zwischen hochtheoretischen und hochpolemischen Traktaten Pin-up-Girls räkeln. Oder noch besser: Den Girls selbst wurden die Proselytensprüche in den Mund bzw. in eine Sprechblase gelegt. Niemand und nichts war vor dem höhnischen Spott der Situationisten sicher. Gab sich eine Gelegenheit zur Provokation, sie nutzen sie, keine Hauswand war vor ihren Parolen sicher.

Ihren Höhepunkt erreichten die Situationisten mit den Studentenrevolten 1968. Die Positionen wurden radikaler, die künstlerischen Aspekte wurden mehr und mehr verdrängt – die Mitglieder, die sich als Künstler verstanden, wurden ausgeschlossen oder verließen die SI. Die totale Verweigerung überwog und die Flut an Texten schwoll an. So kamen die Hilferufe um Unterstützung aus den Universitäten gerade recht. Die Situationisten wusste ja, wie man es macht. Sie kannten sich aus in der Kunst der Provokation und Revolte. Und: Sie gingen sich so selbst in die Falle. Sie wurden selbst zum Spektakel, zwar nicht zum marktkonformen, doch immerhin. 1972 wurde die SI aufgelöst.

Bis 4. August im Museum Jean Tinguely, Basel. Zur Ausstellung erschien ein reich bebilderter Katalog in Deutsch und Englisch mit Beiträgen von Hans Magnus Enzensberger, Thomas Hirschhorn, Jacqueline de Jong, Michael Lentz, Peter Sloterdijk u. a., 29 €