Ab in die Mitte

Die Debatte um die Begnadigung des ehemaligen RAF-Terroristen Christian Klar hat eine über- raschende Folge. Sie stellt die immer noch mächtigste Waffe der RAF in Frage: ihre symbolische Kraft

VON TOBIAS RAPP

Sie hat alle auf dem falschen Fuß erwischt, die neue RAF-Debatte. Gerade einmal ein paar Monate ist es her, dass mit Wolfgang Kraushaars zweibändigem Monumentalwerk „Die RAF und der linke Terrorismus“ ein Buch erschien, bei dem schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis ausreichte, um festzustellen: Nun hat wirklich jeder alles zur RAF gesagt. Vielleicht, so schien es, gibt es für zukünftige Historikergenerationen noch Detailbereiche, die ungenügend ausgeleuchtet erscheinen, die RAF im Spannungsfeld des Kalten Krieges etwa. Doch dieser Eindruck bestätigte nur, wie weit weg das alles war. Die wenigsten brachten die beiden Bände überhaupt mit dem Umstand in Zusammenhang, dass noch immer Angehörige der RAF im Gefängnis saßen.

Falsch gedacht. Ausgerechnet an der Begnadigung und den Haftbedingungen von Christian Klar hat sich eine Debatte entzündet, die ein ganz erstaunliches Eigenleben entwickelt hat. Und deren Ende noch lange nicht abzusehen ist – denn hinter den zentralen Fragen „Wer hat Siegfried Buback erschossen?“ und „Wo kommt die Information her? Wie glaubwürdig ist die Quelle?“ tauchen schon die nächsten auf: „Wer hat Hanns-Martin Schleyer erschossen?“ und „Wer hat’s erzählt?“, und das ist nur der prominenteste Name einer Reihe von Toten, deren Ermordung nie wirklich aufgeklärt wurde.

Es sind Fragen, die sich vorher in dieser Einfachheit nicht stellten, weil sie schlicht unbeantwortbar schienen. Denn die Einzigen, die sie hätten beantworten können, schwiegen. Aus gutem Grund war (und ist) dieses Schweigen doch die letzte Möglichkeit für die RAF, den exklusiven Zugang zu ihrer mächtigsten Waffe zu behalten: ihrer symbolischen Kraft. Die RAF war die einzige Organisation, der es jemals gelang, die Bundesrepublik Deutschland (oder den BRD-Staat, wie man damals auch gerne sagte) existenziell herauszufordern. Der Stern mit dem Schriftzug und der Maschinenpistole in der Mitte war ja nicht nur grafisch außerordentlich gelungen – er konnte den Bundesadler so glaubwürdig angreifen, weil hinter ihm keine Individuen mit Waffen standen, sondern eine „Gruppe“, ein „Kommando“, eben die „Rote Armee Fraktion“.

Dass dieser Gruppe auf den Fahndungsplakaten Einzelpersonen zugeordnet wurden, verstärkte diesen Effekt noch. Wenn ein Gesicht durchgestrichen wurde, tauchte ein neues auf. Die RAF selbst kommunizierte mit der Bundesrepublik über Anschläge und Kommandoerklärungen. Dass deren Polizeiapparat einzelne Gesichter auf Plakate druckte, konnte diesem selbststilisierten Kollektivsubjekt nichts anhaben. Auch die Verurteilungen nicht – sonst wären all die Fragen, die sich nun stellen, auch nicht übrig geblieben. Das, was nach Auflösung der RAF übrig blieb, war die fast schon mythische Kraft ihres Symbols. Nicht dass damit heute politisch oder militärisch noch viel auszurichten wäre. Aber so etwas gibt man nicht aus der Hand.

Wie wirksam das war, konnte man dem letzten Schwung künstlerischer Durcharbeitungen des RAF-Komplexes ablesen. Vom radical chic des mittlerweile sprichwörtlichen Modelabels Prada-Meinhof über Jan Delays Song „Söhne Stammheims“ bis zu Bruce LaBruce’ schwulem Revolutionsporno „The Raspberry Reich“ oder Christian Petzolds Film „Die innere Sicherheit“ ging es immer um die Frage: Was bleibt, wenn nur das Symbol bleibt? Nun wissen wir es: Die Individuen und ihre Geschichten bleiben.

Noch hat aktuell außer Peter-Jürgen Boock niemand gesprochen, und der macht dies in großer Ausführlichkeit auch schon seit Jahren. Doch allein dadurch, dass nun festzustehen scheint, dass Stefan Wisniewski die tödlichen Schüsse auf Siegfried Buback abgegeben hat, hat das Symbol RAF die ersten feinen Risse bekommen. Es werden neue Fragen kommen, und es werden mächtige Verführungsszenarien um alle aufgebaut werden, die sie beantworten können. Es muss ja gar nicht für Geld und Ruhm sein. Es kann auch nur die Möglichkeit sein, die eigene Version der Ereignisse den anderen Geschichten entgegenzustellen. Und wenn erst einmal einer gesprochen haben wird, werden es auch andere tun.

Wahrscheinlich ist es ein weiteres Kapitel im langen Abschied von der Bundesrepublik, das hier gerade verhandelt wird. Auch die RAF wird nun auf den Weg nach Mitte geschickt, in die gesamtgesellschaftliche Normalisierung.