Richter kritisiert Pflegepersonal

Zweiter Tag des Mordprozesses gegen Charité-Krankenschwester: Kollegen schildern Aggressivität der Angeklagten. Richter ist fassungslos, weil nicht eingegriffen wurde

„Das kann ich nicht beantworten“ ist ein Satz, den Stationsleiterin Cordula S. sehr oft an diesem Mittwoch sagt. Das Landgericht hat die zierliche 36-Jährige als Zeugin im Mordprozess gegen die Krankenschwester Irene B. geladen. Der zweite Verhandlungstag offenbarte dabei die desolate Situation, in der sich das Pflegepersonal der kardiologischen Intensivstation 104i in der Charité befand. Denn es nahm die bei Irene B. zunehmenden Symptome der Überforderung zwar wahr, reagierte aber kaum.

Die Anklage wirft der 54-jährigen Krankenschwester sechsfachen Mord an Patienten im Alter von 48 bis 77 Jahren vor. Sie soll die Schwerkranken in den Jahren 2005 und 2006 durch Medikamentenüberdosen zu Tode gespritzt haben. Außerdem werden ihr zwei Mordversuche zur Last gelegt. Die Frau habe sich aus Machtwillen als Herrscherin über Leben und Tod aufgespielt, hieß es in der Anklage. Vier von sechs Todesfällen hatte die gläubige Frau vor Gericht gestanden.

Durchgängig beschreiben die sieben ehemaligen Kollegen dem Gericht, Irene B. habe sich seit 2004 ruppig und aggressiv gegen Patienten benommen. Oft hätten sie rücksichtslos ausgeführte Handgriffe bei ihrer Kollegin beobachtet.

Ende März 2006 sah eine Schwester, wie Irene B. einer geistig verwirrten Frau auf die flache Hand schlug, weil diese ihre Hände mit Kot beschmiert hatte. Die anwesende Krankenschwester war perplex und fragte Irene B., ob alles in Ordnung sei. Es kam keine Antwort. Später meldete die Schwester den Vorfall ihrer Vorgesetzten. Diese versprach, sich zu kümmern – doch die Schwester musste fünf Monate warten, ehe ihre Chefin sie im August 2006 um eine schriftliche Darstellung des Vorfalls bat. Die Stationsleiterin hatte nämlich beschlossen, erst einmal abzuwarten, ob sich ein solcher Vorfall wiederholen würde.

Im Juli 2006 beschwerte sich dann ein Patient bei einer Krankenschwester, er sei von Schwester Irene geschlagen worden. Auch dies drang zur Stationsleiterin. Erst jetzt beschloss sie, die Pflegedienstleiterin zu informieren. Die Vorgesetzte regte an, die beiden Vorfälle anonym protokollieren zu lassen, anschließend wollten sie ein gemeinsames Gespräch mit Irene B. führen. Doch bevor die beiden Frauen einen Termin dafür anberaumten, wurde Irene B. bereits verhaftet. „Warum haben Sie nicht direkt mit Frau B. gesprochen?“, will der Richter wissen. „Ich wollte, dass das Gespräch Konsequenzen hat – eine Abmahnung oder ein Wechsel auf eine andere Station“, antwortet die Stationsleiterin.

Der Richter bezweifelt, dass ein halbes Jahr nach einem Vorfall noch eine rechtskräftige Abmahnung ausgesprochen werden kann. Deutlich empört er sich auch über das Verhalten der Stationsleiterin, als diese Kenntnis von den Mordgerüchten erhält: Die Stationsleiterin informiert ihre Vorgesetzte und glaubt, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben. „Mit Verlaub, das ist ungeheuerlich!“, sagt der Richter.

Auch von den inzwischen für die Mitarbeiter eingerichteten Möglichkeiten, frühzeitig einen Verdacht äußern zu können, ist der Richter nicht überzeugt.

UTA FALCK