Die WG der Religionen

In einst jüdischen Einrichtungen an der Auguststraße in Mitte soll ein internationales Studienzentrum entstehen. Junge Juden, Christen und Muslime könnten dort gemeinsam lernen – und in WGs leben

„Junge Menschen sollen lernen, wie der andere lebt“, sagt Kantorin Avitall Gerstetter

VON PHILIPP GESSLER

Ein Kreis um die Kantorin der Jüdischen Gemeinde, Avitall Gerstetter, will in Mitte eine jüdisch-muslimisch-christliche Akademie gründen. In derzeit ungenutzten und zum Teil baufälligen Gebäuden an der Auguststraße und hinter der Neuen Synagoge soll ein internationales Studienzentrum entstehen, in dem junge Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit gemeinsam wohnen, lernen und arbeiten sollen. Das Projekt soll in den ersten zwei Jahren nach Schätzungen der Initiatoren mehrere Millionen Euro kosten.

Der Komplex, der für das Projekt renoviert und umgebaut werden müsste, umfasst eine Fläche von 3.000 bis 4.000 Quadratmetern. Allerdings sind viele Investitionen nötig, da die Gebäude lange Zeit leer standen. Ein Teil der Gebäude wurde für die vergangene Biennale genutzt. Da die Immobilien bis zur Schoah der Jüdischen Gemeinde gehörten, werden sie ihr voraussichtlich recht bald von der Jewish Claims Conference übertragen werden – die Verhandlungen dazu laufen.

Der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe wurde über das Projekt bereits unterrichtet und bezeichnet die Idee als „sehr interessant“. Es gebe derzeit „eine Vielzahl von Interessenten“ für das Gelände, der Vorstand plane deshalb einen Ideenwettbewerb zur Nutzung des Komplexes. Der Wettbewerb solle „in naher Zukunft“ stattfinden, so Joffe.

Würde das Vorhaben Avitall Gerstetters realisiert, könnte es für die Gemeinde von Vorteil sein: Derzeit ist nämlich weder klar, wie die Gebäude sonst sinnvoll genutzt werden könnten, noch wie der hohe Investitionsbedarf zum Erhalt des Komplexes gedeckt werden kann. Die Initiatoren der Gerstetter-Idee denken beispielsweise daran, einen Teil des Komplexes nach der Renovierung zu vermieten, um dadurch zumindest einen Teil der laufenden Kosten zu decken.

Die Initiatoren hoffen zudem auf eine Unterstützung der Europäischen Union. Sie haben bereits Kontakte geknüpft zum „Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt“, das vor sieben Jahren von der Bundesregierung ins Leben gerufen worden ist. Von diesem „Bündnis“ erhielt Avitall Gerstetter für ihr vorbildliches zivilgesellschaftliches Engagement einen Preis – seit zwei Jahren organisiert sie ein interreligiöses Fußballturnier, das am 24. Juni zum dritten Mal stattfinden soll.

Die jungen Leute, die einen Platz in dieser „Uni auf Zeit“ bekommen sollen, werden den Planungen nach jeweils etwa zwei bis drei Monate in dem Komplex zusammenleben. Sie werden demnach aufgeteilt in WGs von zwei bis drei Leuten, die unterschiedlicher Religion sein sollen, um gegenseitige Toleranz konkret leben und erleben zu können: etwa, indem sie – als kleines Beispiel – tagtäglich üben müssen, wie es gelingt, trotz unterschiedlicher Essensvorschriften gemeinsam zu kochen.

Die insgesamt 18 bis 24 Leute würden ein Taschengeld erhalten, Kost und Logis wären kostenlos. Junge Talente in den Sparten Musik, bildende Kunst und Journalismus sollen angelockt werden – die jungen Reporterinnen und Reporter sollten ein Rechercheprojekt zum Thema (religiöse) Toleranz verfolgen. Allen Bewohnern des Lehrcampus stünden, so die Idee, renommierte Lehrerinnen und Lehrer für ihre Projekte zur Seite. Ein Tonstudio und ein Konzertsaal soll es in dem Komplex geben, die Journalisten sollten Büroräume haben.

„Es geht darum, junge Menschen zu begeistern, da sie in ihren Einstellungen und in ihrem späteren Engagement noch zu prägen sind“, erklärt Avitall Gerstetter. „Sie sollen lernen, wie der andere lebt – und was alle verbindet.“