„Alte Gräben werden wieder aufgerissen“

Die russischsprachige Minderheit in Estland ist vor allem sozial diskriminiert, erklärt amnesty international

„Für meine Schwiegereltern war das Denkmal ein Wallfahrtsort, meine Eltern hassen die Statue“

STOCKHOLM taz ■ Die Verlegung des umstrittenen Denkmals in Tallinn ist umstritten: 49 Prozent der EstInnen waren laut einer Umfrage gegen die Verlegung des Bronzesoldaten, 37 Prozent dafür. Bei Sandra spiegelt sich die Spaltung Estlands zu dieser Frage in der eigenen Familie wieder. „Ich kann beide Seiten verstehen“, erzählt die estnischsprachige Dreißigjährige im Café „Spirit“: „Mein Mann ist Russe. Für die Schwiegereltern war das Denkmal ein regelrechter Wallfahrtsort. Für sie ist das, was jetzt passiert, eine Grabschändung. Meine Eltern dagegen hassen die Statue.“ Nun klagt sie: „Alte Gräben werden wieder aufgerissen.“

Der Soziologe Juhan Kivirähk befürchtet, die Entwicklung bei der Integration der russischsprachigen Bevölkerung könne wegen der Unruhen um Jahre zurückgeworfen worden sein. Obwohl alle Experten gewarnt hätten, habe die Regierung die Stimmung in dieser Bevölkerungsgruppe grob fehlerhaft eingeschätzt.

Das musste auch amnesty international (ai) erfahren, nachdem die Organisation im Dezember vergangenen Jahres unter dem Titel „Jeder Dritte ein potenzielles Opfer für Diskriminierung“ einen kritischen Bericht zur Situation der russischen Minderheit in Estland veröffentlicht hatte. Der Organisation wurde daraufhin von führenden Politikern der Lüge bezichtigt. Dabei hatte ai nur darauf verwiesen, dass die Arbeitslosigkeit in der russischen Bevölkerung fast dreimal so hoch ist wie in der estnischsprachigen. Die Sprachen- und Mitbürgerschaftsgesetzgebung seien hierfür mitverantwortlich, da diese es verhinderten, dass sich an dieser sozialen Diskriminierung Entscheidendes ändern könne.

Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen hatte Brüssel in Tallinn eine Reihe von Verbesserungen für die russische Minderheit durchsetzen können. Seit 2004 sind aber kaum noch neue Initiativen gemacht worden. Die Einbürgerungsraten stagnieren. Ginge es so weiter, würde es weitere zwölf bis fünfzehn Jahre dauern, bis alle „Russen“ die estnische Staatsbürgerschaft erhalten würden. Die Sprachprüfung zur Erlangung der Staatsbürgerschaft müsse entfallen, fordert amnesty. Und Russisch solle den Status einer offiziellen Minderheitensprache erhalten. RWO