„Diese Mega-Verhandlungen sind out“

STUART EIZENSTAT, 64, genießt höchstes Ansehen in der amerikanischen Öffentlichkeit. Der Anwalt war u. a. von 1977 bis 1981 Berater von Präsident Jimmy Carter. Von 1993 bis 1996 war Eizenstat US-Botschafter bei der EU in Brüssel. Während der Präsidenschaft von Bill Clinton war er Unterstaatssekretär im Handelsministerium und anschließend der wichtigste Beamte für wirtschaftliche Belange im Außenministerium. Unter seiner Leitung wurden 1997 und 1998 die Untersuchungsberichte zum sogenannten Nazigold und den „nachrichtenlosen Konten“, vorgelegt und als „Eizenstat I“ und „Eizenstat II“ diskutiert. FOTO: REUTERS

INTERVIEW ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Sie sagen, die USA und die EU sind dabei, ihre Führungsrolle einzubüßen. Was bringt Sie zu dieser Ansicht?

Stuart Eizenstat: Die Weltökonomie verlagert sich entscheidend nach Asien und Lateinamerika, wo neue Wirtschaftskräfte entstehen. Die internationalen Institutionen aber, die US-Amerikaner und Europäer seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis hinein in die 90er-Jahre geschaffen haben, tragen dem nicht Rechnung. Unsere Institutionen reflektieren keineswegs die wachsende Bedeutung dieser Schwellenländer. Daher machen sich Asien und Lateinamerika bereits Gedanken darüber, wie man eigene, konkurrierende Institutionen schaffen könnte. Länder dieser Regionen haben zu Recht das Gefühl, dass sie in den existierenden westlichen Strukturen nicht mitreden dürfen.

Nach einjähriger Recherche zu diesem Thema haben Sie mit Ihrem Koautor Grant Aldonas ein Papier unter dem Titel „Transatlantische Führung für eine neue globale Ökonomie“ geschrieben. Darin empfehlen Sie, alle bewährten internationalen Organisationen umzukrempeln. Warum?

Die Machtarchitektur solcher Institutionen wie Weltbank, Währungsfonds, G 8, OECD oder WTO muss den neuen globalen Verhältnissen angepasst werden. Eine zweite wichtige Erkenntnis ist, dass die Ära multilateraler Handelsrunden vorbei ist. Egal was aus der Doha-Runde wird – wir können uns diese Mega-Verhandlungen mit 150 Teilnehmerländern, die fünf bis sieben Jahre dauern, nur um dann mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu enden, nicht mehr leisten. Dazu verändert sich der globale Markt heute zu schnell.

Wie sollen dann komplexe Welthandelsprobleme gelöst werden?

Unter dem Patronat der WTO sollen sich Länder zusammensetzen, die gleiche Interessen und Liberalisierungsziele haben. Die können in kleineren Runden viel effektiver über kontroverse Handelsfragen verhandeln. Wir können es nur leider nicht mehr die „Koalition der Willigen nennen“, der Begriff ist im Irakkrieg verschlissen worden. Wir nennen es die Gruppen Gleichgesinnter.

Wie kamen Sie darauf, dass es in den internationalen Runden so nicht mehr weitergehen kann?

Als wir mit unserer Recherche begannen, fühlten wir uns noch einer traditionelleren Perspektive verpflichtet. Anlass unseres Papiers beim Atlantic Council war Bundeskanzlerin Merkels Initiative für den gemeinsamen transatlantischen Markt. Die ist sehr wichtig, und wir unterstützen sie. Aber wir merkten schnell, dass die Abschaffung der Handelsbarrieren zwischen der EU und den USA nur die Spitze des Eisbergs sein kann. Ausschlaggebend war für mich der Blick auf Daten wie Währungsreserven, Handel, Investitionen und Energieverbrauch. Zusammengenommen lagen die Schwellenländer da deutlich vor den addierten Ergebnissen der EU und der USA.

Dass andere Regionen aufholen, muss ja nicht gleich heißen, dass Instrumente wie Weltbank oder G 8 unbrauchbar geworden sind.

Wenn die USA und die EU weiterhin Initiatoren und Katalysatoren des Weltmarkts bleiben wollen, müssen sie die wichtigsten Newcomer in einer Konferenz versammeln und mit ihnen über die globale ökonomische Steuerung beraten. Ziel muss sein, alle diese Institutionen neu zu strukturieren. Bei Weltbank und Währungsfonds müsste es zum Beispiel darum gehen, die Nominierungsmonopole abzuschaffen. Warum soll immer ein Amerikaner die Weltbank leiten und immer ein Europäer den Währungsfonds führen? Deren Führung muss endlich nach dem Leistungsprinzip gewählt werden.

Ist das eine Erkenntnis aus dem Wolfowitz-Skandal?

Nein, gar nicht. Wir haben bereits vor einem Jahr darüber nachgedacht. Schwellenländer brauchen mehr Mitspracherechte. Die europäischen Sitze könnten verringert und aufgeteilt werden in Eurozone und Nichteurozone. Außerdem müssen Weltbank und IWF viel besser koordiniert werden. Zudem schlagen wir eine Verschmelzung der beiden bis zum Jahr 2030 vor.

Sie nennen auch die G 8. Die sind doch erfolgreich erweitert worden.

Die G 8 waren bislang sehr hilfreich. Doch auch sie und die G 7 der Finanzminister laufen Gefahr, von der Entwicklung der Weltwirtschaft überrannt zu werden. Unser Vorschlag: Der Zusammenschluss auf der politischen Ebene soll bleiben. Die Finanzministerrunde der G 7, die die Welt im Jahr 1997 noch korrekt abbildete, muss jedoch dringend erweitert werden um Länder wie China, Indien, Südafrika, Brasilien und andere Schwellenländer. Zurzeit ist es so, als ob wir sie vor einer Hochzeit nur zum Polterabend einladen. Das ist Paternalismus pur.

Ist es nicht paternalistisch, davon zu reden, dass USA und EU die globale Führungsrolle innehaben sollten?

Wir haben selbstverständlich das Recht, eine echte Partnerschaft zu initiieren, um die Institutionen zu reformieren, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet haben. Wenn wir diese Institutionen nicht ernsthaft öffnen, werden wir bald feststellen müssen, dass wir nur noch über einen sehr kleinen Sandkasten regieren.

Es gibt aber doch Instrumente wie die Welthandelsorganisation mit ihren 150 Mitgliedsstaaten. Wie Sie aber selbst eben sagten, sind das zu viele Stimmen, um effektiv verhandeln zu können. Ein Widerspruch?

Die WTO benötigt ja auch keine weitere Öffnung. Bei ihr müsste es darum gehen, den Streitschlichtungsprozess transparenter zu machen. Die WTO braucht „plurilaterale Verhandlungsformen“, eben die Gruppen der Gleichgesinnten, die über ein Problem schnell und effektiv verhandeln.

So etwas wie die Doha-Runde ist Ihrer Meinung nach antiquiert. Sie befürworten auch keine regionalen oder bilateralen Runden. Was brauchen wir dann, um den Weltmarkt verantwortungsvoll zu steuern?

Wir benötigen besser strukturierte multilaterale Runden. Dazu muss man nicht die WTO umkrempeln. Ein gutes Beispiel für das, was ich meine, war das Technology Agreement, das die Clinton-Administration damals recht zügig mit nur 20 anderen Ländern ausgehandelt hat. Das war ein neues Thema, und es ging um niedrigere Zölle für Informationstechnologie, an denen alle Beteiligten Interesse hatten. Bevor es zu unterschiedlichen Regulierungen kommt, sollten sich alle, die einen bestimmten Bereich liberalisieren wollen, kurz entschlossen zusammensetzen. So etwas wie Doha, eine Elefantenrunde, die fünf bis sieben Jahre dauert, können wir uns bei dem heutigen Tempo der Weltwirtschaft einfach nicht mehr leisten.

Auf dem globalen Energiemarkt spürt die Erste Welt am deutlichsten, dass sich die Zeiten geändert haben. China macht an allen westlichen Institutionen und Standards vorbei Geschäfte in Afrika und Lateinamerika. Warum sollte sich China von den USA und der EU da noch einbinden lassen?

Die Schwellenländer möchten selber Player in einer globalen Ökonomie sein. Wer eine starke globale Wirtschaft anstrebt, braucht einen starken, gut funktionierenden Energiemarkt. Das gilt auch für China. Die Energiefrage ist der Motor der Weltwirtschaft. Genau wie die USA und die EU sind auch diese Neuen bei ihrer Energieversorgung zunehmend von einigen wenigen Ländern abhängig. Die sind zu einem großen Teil in Händen undemokratischer und autoritärer Regierungen. Es muss daher unser aller Interesse sein, die Internationale Energieagentur (IEA) zu stärken und bei der Suche nach alternativen Energiequellen mehr zu kooperieren. Die weltweit vier großen multinationalen Energiekonzerne haben nicht zu viel Macht, sondern zu wenig. Sie dürfen nur in wenige Bereiche investieren. Über 70 Prozent der Holdings von Ölreserven sind staatliches Eigentum wie in Saudi-Arabien und Russland, denen es an Transparenz, Marktorientierung und Governance-Regeln fehlt.

Was müsste denn Ihrer Meinung nach zuerst passieren: die Abschaffung der Barrieren im transatlantischen Handel, was Angela Merkel nun versucht, oder die Öffnung der internationalen Institutionen?

Wir können uns nicht mehr den Luxus leisten, das eine nach dem anderen anzugehen. Natürlich müssen wir die transatlantischen Beziehungen verbessern. Gleichzeitig müssen wir aber auch eine Reform der Lenkung des Welthandels anstreben. Wenn wir das nicht bald anpacken, werden wir ein chaotisches System unterschiedlichster Regulierungen in der ganzen Welt haben.

Sie sagen indirekt, dass die Merkel-Initiative gar nicht weit genug geht. Stimmt das?

Merkel verdient viel Lob dafür, dass sie den Stein ins Rollen gebracht hat. Das ist eine dringend notwendige Reform der Regulatorien. Wir müssen aber einen Schritt weitergehen. Zum Beispiel benötigen wir auch eine transatlantische Investmentzone. Unternehmen von beiden Seiten des Atlantiks müssen jeweils uneingeschränkt auf der anderen Seite investieren dürfen.

Keine Schranken mehr? Auch nicht beim Thema Sicherheit?

Außer natürlich in einigen genau definierten nationalen Sicherheitsbereichen. Also, die Übernahme eines Rüstungsbetriebs, der einen wichtigen Auftrag vom Pentagon hat, das ginge natürlich nicht.

Bei zahlreichen Handelsfragen sind es seltener die unternehmerischen Interessen, die Schwierigkeiten machen. Es sind die politischen. Was ist Ihr Rezept dagegen?

Deswegen brauchen wir Politiker, wie Merkel und Bush, denen es möglicherweise gegeben ist, protektionistische Tendenzen einzudämmen.

Sie wollen Ihre Ideen demokratisch zu wählenden Politikern anbieten, die ihren WählerInnen dann im Grunde genommen die Idee schmackhaft machen müssen, dass wir unsere Macht zum Teil abgeben müssen. Kann das funktionieren?

Das ist genau der Punkt – ja, wir müssen Macht abgeben. Aber das mussten auch die Mitgliedsländer der EU. Das war Teil des Deals, und alle profitieren davon. Wenn die internationalen Institutionen nicht bereit sind, ihre Monopole zu beenden, dann wird man in Zukunft sicherlich ungeteilte Macht haben. Aber über ein immer kleineres Einflussgebiet.

Eizenstat-Papier: www.acus.org/docs/070420-Transatlantic%20_Global_Economy.pdf