kreuzberger mai
: Die neue Lust am Politischen

Abgesehen vom Ritual der Randale war der 1. Mai in Kreuzberg immer auch ein Ausdruck des jeweiligen Lebensgefühls. Aggressiv und radikal in den Achtzigern, erlebnisorientiert in den Neunzigern, zum Myfest transformiert in den Nullern.

KOMMENTAR VON UWE RADA

Nach 20 Jahren scheint es, als stünde der Kreuzberger Mai erneut vor einer Wandlung – weg von aggressiv und erlebnisorientiert, hin zu einem neuen, politischen Selbstbewusstsein.

Dafür steht vor allem die Mayday-Parade. Die Prekarisierung als Thema ist auch die Wiederentdeckung linker Politik in der ersten Person. Mit Selbstbespiegelung hat das weniger zu tun, eher mit einem linken Blick auf aktuelle Debatten. Je mehr das Grundeinkommen zum Liebling auch von Unternehmern wird, desto wichtiger wird radikale Kritik. Die Mayday-Parade zeigt: Es macht wieder Lust, sich einzumischen.

Eines aber hat der gestrige Mai auch gezeigt: Die „Kreuzberger Mischung“ ist nur noch die Summe ihrer Milieus: die vorwiegend studentisch geprägte Szene auf der Mayday-Parade; die Kapuzenfraktion auf der „revolutionären“ Maidemo; das migrantische Kreuzberg vor den jeweiligen Bühnen auf dem Myfest.

Die Wiederentdeckung des Politischen und der Rückzug ins eigene Milieu sind offenbar kein Gegensatz. Kein Gegensatz, auch das war unübersehbar, sind der 1. Mai und das Kopftuch. Man kann das durchaus mit gemischten Gefühlen sehen. Wichtiger wiegt jedoch: Die Kreuzbergerinnen und Kreuzberger haben sich endgültig ihren Tag zurückerobert – und ihren Alltag öffentlich gemacht.

20 Jahre nach dem Kiezaufstand feiert sich Kreuzberg mit neuem Selbstbewusstsein. Allen Unkenrufen zum Trotz hat sich der Maifeiertag nicht im Ritual erledigt, sondern sich als äußerst wandelbar erwiesen. Randale war vorgestern, Ende der Randale gestern. Heute, das ist eine neue Lust am Sichzeigen und am politischen Streit.

Wohin der führt? Warten wir auf den nächsten Mai in Kreuzberg.