Thriller: Messerscharfes Klavierspiel

Die Bourgeoisie sezieren: In seinen besten Momenten folgt Denis Dercourts Film "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" den Spuren Chabrols.

Die freundliche Bedrohung auf dem Beifahrersitz Bild: Promo

Wie schnell man doch im Kinosessel zur konditionierten Kreatur wird. Kaum erscheint ein von geübter Hand geführtes Hackebeilchen, das ein Kaninchen küchenfertig zerlegt, blitzen schon weitaus blutrünstigere Assoziationen im Geiste auf. Es ist vor allem der schneidende Laut des Beils, der die Angstbilder hervorbringt. Wird die junge Mélanie auch die Familie, bei der sie arbeitet, in Stücke schneiden?

Immer wieder sind es Geräusche und Töne, die in Denis Dercourts Film "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" ein heimtückisches Spiel mit unseren Nerven treiben. Denn eigentlich ist es still im Haus des angesehenen Anwalts Fouchécourt. Bei Tisch fällt kaum ein Wort, dafür hört man umso deutlicher, wie der Rotwein eingeschüttet wird. Der kleine Sohn redet nur, wenn er angesprochen wird. Im Pool gibt er kein Geräusch von sich und stoppt stattdessen seine Tauchzeit. Es ist eine umfassende, bedrückende Stille, seltsam verstärkt durch das Klavierspiel der Dame des Hauses. Messerscharf durchdringen die Töne die bourgeoise Erstarrung.

Bei Dercourt wird die Musik, die einen Genrefilm normalerweise nur untermalt, zum eigentlichen Gegenstand der Geschichte: Vor einigen Jahren hatte Ariane Fouchécourt (Catherine Frot) einen Autounfall mit traumatischen Folgen. Seitdem leidet die bekannte Konzertpianistin so sehr an Lampenfieber, dass sie vor öffentlichen Auftritten zurückschreckt. Offenbar hat das aushilfsweise einspringende Kindermädchen Mélanie (Déborah François) einen beruhigenden Einfluss auf die labile Virtuosin. Mit der jungen Frau kommt jedoch eine neue, andere Stille ins Haus. Sie erzählt nichts von sich, ihr Gesicht ist verschlossen, ihr Lächeln unverbindlich. Wenn Mélanie durch die langen Flure und Zimmerfluchten des großzügigen Anwesens schreitet, studiert die Kamera ihren Gang genau. Er ist aufrecht, zielstrebig, doch auch irritierend geräuschlos. Wenn dieses Wesen in einem Zimmer auftaucht, scheint es manchmal, als sei es immer und überall präsent. Tatsächlich hat sich das Kindermädchen schon tiefer im Leben der Fouchécourts eingenistet, als die Familie ahnt.

In seinen besten Momenten verbindet Dercourts Film eine an Claude Chabrols Bourgeoisie-Studien erinnernde Beobachtungsgabe mit dem Thrillermotiv des Fremden, der in ein Leben eindringt. Dabei arbeitet er mit dem klassischen Mittel des Suspense, indem er die Vorgeschichte des Kindermädchens erzählt. Es ist ein Vorspiel im wahrsten Sinne des Wortes: Als Kind nimmt Mélanie an einem Klavierwettbewerb teil, dessen Jurorin Ariane Fouchécourt ist. Doch statt zuzuhören, gibt die Meisterin während des Vorspielens ein Autogramm. Abgelenkt verhaspelt sich die Nachwuchspianistin. Wenn die Kleine den Deckel des heimischen Klaviers zuschlägt, den Schlüssel umdreht und die kleine Beethoven-Büste für immer in die Schachtel packt, dann spricht aus ihren Zügen jene unheimliche Entschlossenheit, mit der die Erwachsene zum ersten Mal an der Tür des Anwalts Fouchécourt klingeln wird.

Beunruhigt betrachten wir, wie mit Mélanie eine kaum zu greifende Drohung im Hause Fouchécourt einzieht. Was führt sie im Schilde, wenn sie mit dem Sprössling Tennis und Verstecken spielt, mit ihm im Pool plantscht und sein Metronom schneller stellt? Wenn sie dem Spiel der Mutter aufmerksam lauscht und plötzlich gekonnt die Notenseiten umblättert? Ist es Liebe, Bewunderung oder etwas ganz anderes, wenn sie Ariane plötzlich Avancen macht?

Solange Denis Dercourts Film in der Schwebe bleibt, hält er seine Spannung. Zwischen Liebes- und Rachegeschichte, Zärtlichkeit und Sadismus, Psychodrama und Genrefilm. Leider fehlt ihm der Mut, diese Offenheit bis zuletzt durchzuhalten. Um in einem musikalischen Bild zu bleiben: Es ist ein wenig schade, dass sich am Ende ein großer klarer Schlussakkord über alle Ambivalenzen und Zwischentöne dieses Films legt.

"Das Mädchen, das die Seiten umblättert", Regie: Denis Dercourt. Mit Catherine Frot, Déborah François u. a., Frankreich 2005, 85 Min.

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