Scham & Vorurteil: Die Nullfinnlandsaga

Niemand war perplexer als die Finnen selbst, als sie im vorigen Jahr den Grand Prix gewannen. Wie die Monsterrocker von Lordi die nationale Beschämung ad acta legten

VON MARI PAJALA

Der Abend begann vielversprechend. Schon die ersten verkündeten Punkte des Grand Prix 2006 (nämlich acht) gingen an die finnische Band Lordi und ihr Lied „Hard Rock Hallelujah!“. Andorra gab seine Punkte danach ab – und Finnland bekam deren zehn. Dann bekam Finnland von allen Ländern bis auf Armenien und Monaco Punkte. Die finnischen ModeratorInnen fragten sich, ob alles nur ein Traum sei und ob die anderen auch so ein unwirkliches Gefühl hätten wie sie selbst. Finnland erhielt zum ersten Mal seit 29 Jahren zwölf Punkte, die höchste Länderwertung, bald war der bisherige Punktehöchststand Finnlands (93 Punkte im Jahre 1973) überholt. Am Ende holten Lordi den Sieg – mit dem höchsten Punktestand in der ganzen Geschichte des Grand Prix: 292 Punkten.

Das Boulevardblatt Iltalehti beschrieb den Abend in einer Helsinkier Kneipe, wo sich jedes Mal, wenn Lordi Punkte erhielten, das Mantra wiederholte: „Das kann doch nicht wahr sein.“ In einem Turkuer Restaurant war ein Gast erstaunt: „Sag mir, bin ich so betrunken, dass ich falsch sehe? Finnland kann doch nicht gewinnen, oder?“ Das Boulevardblatt Ilta-Sanomat schrieb, dass die finnischen Fans vor Ort in Athen vor Glück geweint hätten. „Jetzt sehen wir, dass Finnland als Land keinen Fehler hat. Finnland wird gewählt, wenn nur das Lied und die Show richtig sind“, meinte einer der Fans. Ein Mann, der in Lordis Heimatstadt Rovaniemi interviewt wurde, sagte unter Tränen, dieser Abend sei der beste seines Lebens, und Iltalehti kommentierte: „Wegen Monstern weint selbst ein erwachsener Mann.“

Es war ein kurioser Zufall, dass den ersten finnischen Sieg gerade die Monster von Lordi holten: Schon einige Jahre lief per E-Mail und über Diskussionsforen im Internet ein Witz, in dem ein finnischer Sieg beim Grand Prix mit einer Endzeitstimmung verbunden war. In dem Witz wurden Finnland als exotisches kaltes Land und die Finnen als energisches Volk dargestellt, das ohne Probleme unter unmenschlichsten Bedingungen überleben könne. Bei minus 10 °C begännen die Briten, ihr Haus zu heizen, die Finnen, langärmlige Hemden zu tragen. Bei minus 30 °C erfrören die Griechen, die Finnen brächten ihre Wäsche zum Trocknen ins Haus. Bei minus 50 °C flöhen die Eisbären vom Nordpol, die finnische Armee verschiebe ihre Winterübung, bis der richtige Winter käme. Bei minus 273 °C stoppe die Bewegung der Atome, die Finnen sagten: „Zum Teufel, ist es draußen kalt.“ Schließlich bei minus 300 °C würde die Hölle zufrieren und gewännen die Finnen den Eurovision Song Contest.

Finnland war tatsächlich jahrzehntelang das schwarze Schaf der Eurovision. Ein Rekord: Schlusslicht waren wir achtmal. Zu Beginn des Grand Prix gewannen nur wenige Länder, und oft wurde geschrieben, dass ein Sieg nur bestimmten, allen voran französischsprachigen Ländern möglich wäre. Nach und nach kamen immer mehr Länder dazu, die den Wettbewerb gewannen. Dänemark gewann 1963 als erstes skandinavisches Land, 1974 rückte Schweden nach. Als das für sein schlechtes Abschneiden bekannte Norwegen dann 1985 gewann, war Finnland als einziges dieser Länder ohne Sieg. Darüber hinaus wurden die israelischen (1978, 1979) und jugoslawischen Siege (1989) in Finnland als Beweis dafür gesehen, dass eine seltene Sprache nicht unbedingt ein Hindernis für einen Sieg ist. So gesehen schien das finnische Abschneiden wirklich ungewöhnlich schlecht.

Der Eindruck des ewigen finnischen Misserfolgs beruht allerdings auf selektiver Erinnerung. So waren die finnischen Lieder in den 70er-Jahren typischerweise in der Mitte der Tabelle platziert und nicht an ihrem Ende. In den frühen 80er-Jahren waren zwei Titel Letzte, drei andere jedoch unter den besten Zehn. Erst seit den 90er-Jahren schnitten die finnischen Lieder durchweg schlecht ab. „Aava“ (Weite) war 1998 als bestes Lied Fünfzehnter. Die schlechten Ränge der letzten anderthalb Jahrzehnte und die Jahre dazwischen haben zweifellos zur Auffassung beigetragen, dass Finnland immer unter den Letzten war, und frühere relativ gute Ränge aus dem Gedächtnis getilgt. „Finnland, null Punkte“ wurde in den späten 90er-Jahren zu einem festen Ausdruck, mit dem die finnische Sonderstellung beim Eurovision Song Contest beschrieben werden sollte. Beim Grand Prix allerdings hat man diesen Satz nie hören können, denn in der Veranstaltung werden nur die verteilten Punkte, nicht aber die leer ausgegangenen Länder genannt.

Mit „Finnland, null Punkte“ konnte man beschreiben, dass Finnland beim Song Contest einen festen Platz hatte. In der Praxis war null kein besonders häufiges Ergebnis – denn insgesamt nur drei finnische Lieder sind beim Grand Prix völlig leer ausgegangen. Die beiden ersten, „Muistojeni laulu“ (Das Lied meiner Erinnerung) und „Aurinko laskee länteen“ (Die Sonne geht im Westen unter) stammen aus den 60er-Jahren, als null Punkte nichts Außergewöhnliches waren. Erst seit 1975 und mit einem neuen Punktesystem wurde die Null selten und besonders beachtet. „Nuku pommiin“ (Verschlafe) aus dem Jahr 1982 ist das einzige finnische Lied, das mit dem neuen System ohne Punkte blieb. Gleichwohl wurde „Finnland, null Punkte“ zu einer Standardbemerkung.

Die Vorstellung von Finnland als ewig erfolglosem Land beim Grand Prix, als „Nullfinnland“, baut der Nation eine gemeinsame Geschichte. Der Wettbewerb wird als gemeinsame Niederlage der Finnen beschrieben. Nullfinnland ist ein Beispiel für ein negatives Reden über finnische Identität, das in Finnland seit dem 19. Jahrhundert starke Traditionen hat. In den negativen Auffassungen der finnischen Identität wird diese mit den westeuropäischen Kulturen verglichen und als schwächer entwickelt und rückständig angesehen.

Die Erfolglosigkeit kann jedoch auch als Mittel der positiven Distinktion wirken. Die Zeitschrift Katso beschrieb den Eindruck, den das finnische Lied im 82er-Finale machte, mit der Schlagzeile: „Nullfinnland ist jetzt ein Witz. Das Publikum staunte und schwieg – und wendete die Niederlage schließlich zum Sieg: Die null Punkte waren nach dem Wettbewerb in Harrogate gar nicht mehr so schlimm. Eigentlich hat Finnland etwas getan, an das man sich erinnern wird. Schon früher waren wir Letzte, aber noch nie so aufsehenerregend.“ Selbst der Sänger Kojo war mit den null Punkten zufrieden: „Welch ein Glück, dass ich keine nichtssagenden drei oder vier Punkte bekommen habe. Nur an den Ersten und den Letzten erinnert man sich.“ Wie die Zeitschrift Apu schrieb, konkurrierte Kojo musikalisch in einer anderen Liga, sodass er eigentlich nicht verloren, sondern … sich unterschieden hatte.

Für das schlechte Abschneiden Finnlands beim Grand Prix wird mal die finnische Sprache, mal der vorgeblich merkwürdige Musikgeschmack der Finnen verantwortlich gemacht. Die Erklärungen berufen sich auf „unveränderliche nationale“ Eigenschaften. Die gemeinsamen Begründungen für das schlechte Abschneiden sind nicht sehr überzeugend: Bei weitem nicht alle Wettbewerbslieder waren auf Finnisch, und sie standen für sehr verschiedene Musikstile. Kulturunterschiede sind trotzdem eine beliebte Erklärung für Misserfolge, denn sie beruhen auf dem Wunsch, die finnische Identität als etwas Besonderes zu sehen. Wenn die Platzierung einzelner Lieder als Teil der nationalen Erzählung gesehen wird, wird ein gemeinsamer Faktor gesucht, der die Platzierungen erklären könnte.

Finnland wird als kleine, zähe Figur dargestellt, die allein gegen größere Mächte kämpft. Dieses maskuline Finnlandbild wurde auch in der Jubiläumsshow zum 50-jährigen Jubiläum des Grand Prix gezeigt, die das dänische Fernsehen im Herbst 2005 in Kopenhagen produzierte und das finnische Fernsehen am 22. Oktober 2005 sendete. Nach „Waterloo“ von Abba stellten die Moderatoren Finnland als Land vor, das am längsten ohne Sieg am Wettbewerb teilgenommen hatte. Auf der Bühne begann anschließend der Männerchor Mieskuoro Huutajat seine aggressive Version von „Waterloo“, in der besonders die Stellen „Waterloo“ und „I was defeated“ wiederholt wurden. Der Auftritt endete mit dem Schrei „I feel like I win when I lose“, wobei im Hintergrund auf einer Leinwand die Abba-Frauen in ihrer 1974er-Eleganz lächelten. Die Konstellation betonte den Kontrast zwischen den schwedischen Frauen und den nordfinnischen Männern, zwischen Siegern und Verlierern.

Lordi sind eine fünfköpfige Band, aber ihr Kern ist der Sänger Mr. Lordi, mit bürgerlichem Namen Tomi Putaansuu. Putaansuu wurde 1974 in Rovaniemi, der größten finnisch-lappischen Stadt, geboren. Seit seiner Kindheit begeisterte er sich für Kiss und für Monster aus Horrorfilmen, die bis heute seine wichtigsten Inspirationsquellen sind. In seiner Schulzeit spielte er mit seinen Freunden Musik und nahm Horrorfilme auf. Später zog Putaansuu nach Helsinki und begann, das Projekt Lordi in die Tat umzusetzen. Viele seiner Bandmitglieder lernte er im finnischen Kiss-Fanclub kennen, den er selbst gründete.

Es war ganz egal, wie sich Lordi beim Grand Prix platzieren würden: Das seltsame Outfit würde einen guten Kontrast bringen, und das war gerade das, was Lordi jetzt brauchten, sagte der Geschäftsführer der Plattenfirma. Das Budget für die Platte war eher klein, sodass man kein großes Medienspektakel zur Promotion organisieren konnte. Der Vorentscheid bot kostenlose Medienpräsenz und Material für ein interessantes Drama. Die Strategie ging auf.

Nachdem Lordi als Vertreter für den Eurovision Song Contest gewählt waren, wurden in den Medien Zweifel laut, ob die Band geeignet sei, das Land zu vertreten. Ilta-Sanomat etwa brachte eine Schlagzeile, nach der Lordis Sieg einen Sturm des Hasses entfacht hätte. Noch am Tag des Song Contests fragte die Zeitung in einer Internetumfrage, ob Lordi die geeigneten Musikbotschafter für Finnland seien. Eine knappe Mehrheit der Antwortenden war für Lordi. In den Internetforen hielten viele die Band für eine außergewöhnlich geglückte und neuartige Wahl. In den negativen Kommentaren wurde der Diskurs der nationalen Schande reaktiviert. Immer wieder wurden Lordi als schändliche Vertreter dargestellt. „Ekelhaft!“ und „Über uns wird ja ganz Europa lachen“ waren typische Reaktionen.

Nach Lordis Sieg hörte man weniger von Schande. Lordi wurden eingemeindet und mit einer anderen finnischen Sagengestalt verglichen: dem Weihnachtsmann. In der Zeitschrift Seura, als Teil einer Sondernummer „Die großen Söhne Lapplands“, posierten Mr. Lordi und der Weihnachtsmann gemeinsam vor der Kamera. Im Interview sagte dieser, dass er Mr. Lordi, das sympathische Monster, nicht fürchte. Obwohl Lordi hauptsächlich durch die amerikanische Unterhaltungskultur beeinflusst wurden (oder vielleicht gerade deswegen), konnten sie problemlos als Finnen und als ungefährlich angesehen werden. Lordi waren nicht unbedingt radikal neuartige Vertreter der finnischen Identität im Kontext des Eurovision Song Contest. Die Band ist durchaus geeignet, die Tradition der Darstellung der finnischen Identität fortzusetzen, in der maskuline Begeisterung und nordische Besonderheit hervorstechen.

Andererseits gab es bei Lordi auch etwas anderes in Bezug auf die finnische Eurovisionsgeschichte. Tomi Putaansuu stellt ein recht ungewöhnliches Bild eines finnischen Mannes dar. In der Presse wurde er als Junge beschrieben, der mit Barbiepuppen spielte, der sich schminkte, um sich zu maskieren, und der seinen Spitznamen Lordi wegen seiner aufsehenerregenden Kostümierung erhielt. Lordis Spiel mit der theatralischen Maske steht im Geiste des Camp: Es ist bewusst künstlich und übertreibt die Heavy-Ästhetik.

Lordi verwendeten beim Auftritt nationale Symbolik, aber sie konnten genauso gut als Vertreter anderer gesellschaftlicher Gruppen gelten. In Athen hatte Tomi Putaansuu einen mit einer finnischen Fahne geschmückten Zylinder auf, den er dann bei der Punktevergabe gegen eine samische Kopfbedeckung austauschte, um seine Verbindung zu Lappland hervorzuheben. Ein Platz im Stadtzentrum von Rovaniemi wurde nach dem Sieg in Lordiplatz umbenannt, außerdem bekam Putaansuu von der Stadt ein Grundstück geschenkt, wie es in Finnland traditionell bei internationalen Wettbewerben erfolgreiche Sportler erhalten.

Nach dem Eurovisionserfolg konnte man die umstrittene Monster-Heavy-Band Lordi plötzlich mit hohen staatlichen Symbolen verbinden. Im Fernsehen wurde zum Abschluss des Song Contests der Ehrenmarsch der Streitkräfte gespielt, während auf dem Bildschirm Aufnahmen vom Auftritt der Monster liefen. Der Präsident des finnischen Parlaments, Paavo Lipponen, schlug vor, eine Lordi-Gedenkmünze aufzulegen; Ministerpräsident Matti Vanhanen posierte mit Lordi und machte das Teufelszeichen.

Obwohl Lordis Sieg als historischer Wendepunkt gefeiert wurde, blieb die Mediendiskussion Begriffen und Interpretationen verhaftet, die schon zuvor den Diskurs geprägt hatten. Der Übergang von der Scham zum nationalen Stolz ist fließender, als es scheint. Als Ausdruck von Scham kann man sich mit der Nation identifizieren oder sich von ihrem Misserfolg distanzieren. Wenn der nationale Vertreter dann erfolgreich ist, kann die Identifizierung in Stolz übergehen. Der erste finnische Eurovisionssieg bedeutete keinen vollständigen Bruch in der nationalen Erzählung über den Grand Prix, aber mit ihm wurde die endlos scheinende Medienerzählung neu ausgerichtet.

MARI PAJALA, geboren 1974, ist Medienwissenschaftlerin in Turku. Ihr Text besteht aus Auszügen aus ihrem Buch „Finlande: zero points? Der Eurovision Song Context in den finnischen Medien“ (SAXA Verlag, Köln 2007, 157 Seiten, 18,90 Euro), übersetzt von Detlef Wilske