Präsident der Distinktionen

Land der feinen Unterschiede: In Frankreich trat stilsicherer Chic gegen zurückhaltende Eleganz an. Beobachtungen zu einem Wahlabend in einer sich in der Mode manifestierenden Klassengesellschaft

Sarkozy ist Teil jener Elite, deren fremde Welt uns bei Pierre Bourdieu begegnet

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Nur für ein einziges Mal sollte Nicolas Sarkozy an diesem Wahltag seine Rolle verlassen. Diesen erratischen Habitus der Selbstgewissheit. Als er im Wahllokal seines Heimatortes Neuilly-sur-Seine den Umschlag mit dem Kreuzchen in die Urne gesteckt hatte, bemühte sich der künftige Präsident der Fünften Republik zunächst vergeblich, ein paar Hände zum Schütteln auszumachen. Bis sich doch ein paar Wahlhelfer fanden. Für eine Sekunde nur sah der Gewinner ein wenig verloren aus.

Wahrscheinlich aber wäre es falsch, in diesen Zwischenfall eine Kritik an der Person Sarkozy oder gar an seinem Politikstil hineinzulesen. Allenfalls wirft es ein Schlaglicht auf seinen Führungsstil, mit dem er künftig eine ganze Nation leiten wird. Nikolas Sarkozy wirkt eben nicht wie einer, der darauf wartet, dass ihn ein Wahlhelfer herzt. Und diese Verwunderung sprach auch aus den Gesten der Geschüttelten. Man kann sich den Sohn eines ungarischen Grafen kaum mit Fanschal auf der Haupttribüne eines abstiegsbedrohten Arbeiterclubs vorstellen. Aber für die Gesten eines Gerhard Schröder haben die Franzosen Nikolas Sarkozy auch nicht gewählt.

Ségolène Royals Urnengang wirkte da inszenierter. Fast so, als hätten die Menschen vom Fernsehen das Wahllokal noch einmal nach ihren Bedürfnissen umgestylt. Die Urne stand zentral, ähnlich einem Rednerpult im Parlament. Und Ségolène Royal hielt den Stimmzettel tapfer in den Schlitz, bis wirklich jedes Foto geschossen, wirklich jede Kameraeinstellung im Kasten war. Mindestens mit diesem Medienauftritt wollte sie es allen recht machen. Mehrere Minuten, so hat es eine Presseagentur gestoppt, stand sie so da. Es sollte nicht ihr letzter großer Auftritt bleiben.

Dabei war die Wahl zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon gelaufen. Worin vielleicht der Hauptgrund zu finden ist, dass die Kameras – selbst die des französischen Senders TV 5 – am Wahlabend so wenige Verlierer finden konnten. Was sie fanden, waren unterschiedliche Aggregatzustände von Stolz und Selbstzufriedenheit. Nicht auf diese polternde, wahnsinnige Weise allerdings, mit der Gerhard Schröder nach der Bundestagswahl 2005 vom zweiten Sieger zum eindeutigen Verlierer geworden war. Im Lager der Sozialisten deuteten wiederkehrende „Ségolène Royal“-Chöre im Gegenteil darauf hin, dass es ihr mindestens gelungen war, das Selbstbild einer Partei aufzumöbeln. Sie, deren stilsicherer, zwischen puristischer Klassik und dezenter Romantik changierender Chic so gerne mit Jackie Kennedy verglichen wird. Die allerdings war First Lady – und keine Regierungschefin.

Anders gesagt: Sieht man die Beine von Condoleezza Rice, ahnt man, dass diese treten können. Und vielleicht auch deshalb trug Ségolène Royal bei ihren letzten Wahlkampfauftritten auffallend schultergepolsterte Kostümjacken. Sollten sie ihrem feinen, meist feinfühligen Auftritt ein paar Kanten verleihen? Oder eine klare Linie?

Viel ist über den Kleiderschrank der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin geschrieben worden. In politischen Feuilletons genauso wie in Betrachtungen zur diesjährigen Frühjahrsmode. Texte zu roten Schuhen waren plötzlich mit den Beinen der Politikerin, an ihnen ein Paar rote Pumps, illustriert. Ein Schnürstiefel, mit dem Ségolène Royal im vergangenen Winter mehrfach aufgetreten ist, war nach wenigen Tagen ausverkauft. Und Paule Ka, Lieblingsdesigner der Politikerin, schweigt über den Umsatzgewinn, den sein Unternehmen in Folge dieses Wahlkampffrühlings zu verzeichnen hat. Was für sich genommen ja auch schon eine Aussage ist. Viele Französinnen wollen dieser Tage aussehen wie eine Verliererin.

Das Interesse am Kleiderschrank von Nicolas Sarkozy hielt sich hingegen in Grenzen. Dabei ist sein Stil doch genauso typisch französisch, wie es der seiner Herausforderin ist. Sie kommt aus Frankreich, dem Land des Stils und der Mode. Er kommt aus Frankreich, dem Land der feinen Unterschiede und der vererbten Distinktion. Mit selbstverständlicher Unauffälligkeit trägt der Mann, der sein Studium an der Eliteuniversität Institut d’études politiques de Paris nie abgeschlossen hat, tadellos sitzende Maßanzüge und ausnahmslos handgenähte Schuhe.

Sarkozy taugt nicht zum Brioni-Präsidenten, weil er nicht erst Präsident werden musste, um einen solchen Auftritt zu pflegen. Obgleich Sohn eines Immigranten, des Publizisten Pál Sárkozy, ist er doch Teil jener französischen Elite, deren fremde Welt uns in den Gesellschaftsanalysen eines Pierre Bourdieu begegnet ist. Vom „geerbten im Gegensatz zum erworbenen Kapital“ sprach der französische Soziologe. Klassenbester in einer noch immer manifesten Klassengesellschaft – so ungefähr dürfte Nicolas Sarkozy sich selbst betrachten.

In der Wahlnacht feierten französische „Elitestudenten“, wie der ARD-Kommentar sie nannte, seinen Sieg am Place de la Concorde mit Veuve Clicquot Champagner. Es war auch ihr Triumph.