„Es fehlt die konzeptionelle Kraft“

Der Berliner Historiker Paul Nolte kritisiert das neue CDU-Programm als unentschlossen und konfliktscheu

PAUL NOLTE, geb. 1963, ist Professor für Zeitgeschichte an der FU Berlin.

taz: Herr Nolte, in Ihrem jüngsten Buch beschreiben Sie die Gegenwart als „riskante Moderne“. Wird das neue CDU-Programm deren Herausforderungen gerecht?

Paul Nolte: Nein, da ist zu viel Unentschiedenheit. Eine klare Bestimmung der gegenwärtigen Herausforderungen fehlt. Stattdessen wird ein Kapitel über christliche Demokraten vorangestellt, das genauso gut 1957 oder 1987 entstanden sein könnte.

Aber nicht in den Siebzigern, als Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf die CDU-Programmatik erneuerten?

Ein Rückfall ins Gesellschaftsbild der Adenauerzeit ist das Programm nun auch wieder nicht. Aber es fehlt die konzeptionelle Kraft, die Verhältnisse auf den Begriff zu bringen.

In der praktischen Gesellschaftspolitik überrascht die CDU mit Kinderkrippen oder Integrationsgipfel. Bleibt die Programmatik dahinter zurück – wenn schamhaft von Integrationsgesellschaft statt Zuwanderung die Rede ist?

Das ist die taz-Interpretation, Konservative sehen in dem Bekenntnis zur Integration durchaus einen Paradigmenwechsel. Aber genau das ist das Unbefriedigende: Das Programm ist bewusst so gestaltet, dass sich jeder seine eigene Interpretation zurechtlegen kann. Es versucht auf eine relativ billige Weise, verschiedene Strömungen aufzunehmen – statt solche Konflikte nach vorne zu denken.

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist das Programm klar marktliberal?

In der Tendenz schon, aber auch das wird nicht klar gesagt. Das Programm laviert unentschlossen zwischen einem steuerfinanzierten Sozialstaat und der klassischen Sozialversicherung. Ich kann ja verstehen, wenn die CDU nach der Hartz-IV-Erfahrung sagt: Die Sozialversicherungen haben ihren guten Sinn, weil die Menschen ihre Würde behalten und nicht auf Almosen angewiesen sind. Aber dann sollte man das auch pointiert formulieren.

Wie soll man es machen?

Der Entwurf für das neue CSU-Programm ist wesentlich klarer. Dort wird gesagt: Wir brauchen einen starken Staat – im Sinne der inneren Sicherheit, aber auch des Sozialen oder einer Industriepolitik à la Bayern. Das ist ein Programm, zu dem man sich verhalten kann – auch wenn man ihm nicht zustimmen muss. INTERVIEW: RAB