Kontrollierte Rebellion

In Graffiti-Workshops lernen Manager aus aller Welt von authentischen Berliner Anarchos, einmal so richtig die Sau rauszulassen. Das ist gar nicht so leicht: Mancher sprüht nur brav sein Firmenlogo an die Wand

AUS BERLIN LYDIA HARDER

Eine Mülltonne steht in Flammen. In zerbrochenen Scheiben von Autowracks spiegelt sich das gleißende Licht der Sonne. Hier am Ostbahnhof endet die East Side Gallery, das bemalte und längste erhaltene Stück Mauer in Berlin. Auf einem Hinterhof schütteln Sprayer ihre Farbdosen vor weißen Wänden. Rap-Musik mischt sich mit monotonem Verkehrslärm. Der stechende Geruch von Farbe hängt in der Luft wie eine künstliche Wolke.

Ein dunkler Reisebus fährt vor, heraus spazieren Damen mit Hüten und Louis-Vuitton-Täschchen und Herren in schwarzen Mänteln mit Ralph-Lauren-Sonnenbrillen. Unsicher lächeln sie, ein wenig verschämt, und schauen sich hektisch um. Sie gruppieren sich um acht weiß gestrichene Holzwände, aufgestellt auf dem Hof des Yaam, einem Berliner Reggae-Club. Die Franzosen sind zwischen 30 und 60 Jahre alt und Manager aus Paris. Sie arbeiten für Pharmakonzerne.

Max Weber, 28, wilde Locken, Dreitagebart, steht in Turnschuhen und Kordhose zwischen den Managern herum. Er ist Angestellter im Reggae-Club. Und er ist Sprayer, „früher von der Polizei gesucht“, soll heißen: authentisch. Er begrüßt die Franzosen und sagt ihnen, sie sollen ruhig sprayen, was sie wollen, sich frei fühlen.

Erst aber müssen sie in Malerschutzanzüge steigen. Das sind Ganzkörpersäcke aus Plastik, die Anzug und Kostüm vor Farbe schützen. Eine Dame hüpft auf einem Bein, der Stiefelabsatz hat sich im Plastiksack verfangen. Atemschutzmasken und Plastikhandschuhe vervollständigen die Vermummung.

„Art Berlin“ heißt der Graffiti-Workshop mit echten Sprayern aus der Szene, „der etwas andere Betriebsausflug“. Gestern noch Tourist im Deutschen Bundestag, heute Teil der Berliner Subkultur. Zwischen den Managern und den Sprayern, die sich selbst Writer nennen, stehen Event-Agenturen. „Die Franzosen sollen nicht denken, in Deutschland sei alles akkurat und spießig“, sagt eine Event-Managerin. Sie trägt einen grauen Anzug.

Dass sie mal Kundschaft in Armani-Anzügen bekommen, hatten die Sprayer nicht geplant. Erst über eine Berliner Event-Agentur kam der Kontakt zustande. Das war im Jahr 2003, und seitdem sprühen Manager aus Frankreich, Großbritannien, Spanien und Dänemark zusammen mit Berliner Sprayern die Wände voll.

„Wenn Sie mit der Dose dichter rangehen, wird die Linie schärfer“, erklärt Thomas, 32, klassischer Allroundwriter, wie er sagt. In der Graffiti-Szene gilt er als einer der Großen. „Über tausend Trains“, erklärt er, U-Bahnen, S-Bahnen, habe er besprüht. Jeder Sprayer habe was mit der Justiz am Laufen, vor allem wegen Sachbeschädigung, sagt Thomas. „Nicht der Rede wert.“ Die Berliner Verkehrsbetriebe und die S-Bahn zahlten im vergangenen Jahr zusammen fast 15 Millionen Euro für die Schadensbeseitigung von Graffiti an Fahrzeugen, Bahnanlagen und Gebäuden.

Im Yaam offenbart sich, wie leicht sich ein anarchistisches Lebensgefühl zu kommerziellen Zwecken nutzen lässt. Dass gerade Manager sich davon angezogen fühlen, die sich im Arbeitsalltag ausschließlich in Hierarchien bewegen, zeigt, wie nahe sich die beiden Welten hier kommen. Die Sprayer bieten eine vollkommen normale Dienstleistung an. Eine subkulturelle Szene erfüllt eine Marktfunktion.

Angeregt von der urbanen Kulisse sprühen die Franzosen drauflos. Eine ältere Dame mit blondem Haar hat gerade die Umrisse für die Lettern „nice day in Berlin“ gemalt und macht sich daran, diese bunt auszumalen. Andere sprühen treu ihr Firmenlogo, um sich anschließend daneben fotografieren zu lassen, für die Fotowand im Büro. Nach etwa einer Stunde sehen die Bilder aus wie die Kritzeleien eines Dreijährigen oder Verewigungen an Klowänden. „Immerhin malen sie“, meint Ronny, der dritte Sprayer des Workshops. „Beim letzten Mal hatten wir Manager von Nokia, die waren ein bisschen schüchtern.“

Eine Gruppe um Emmanuel Audusseau, Manager bei Schering, nutzt die Gelegenheit zum Ausbrechen. Zu viert sprühen sie prustend ihre Leinwand voll, „Deep Throat“ heißt ihr Gesamtkunstwerk, frei nach dem amerikanischen Pornoklassiker von 1972. Für ein paar Minuten mal „bad boy“, der Gangster sein, tue gut, sagt Audusseau und lockert den Krawattenknoten.

2.000 Euro zahlen die Konzerne insgesamt für zwei Stunden kontrollierte Rebellion. Sie erwarten, dass ihre Angestellten ausgeglichen und kreativ beflügelt zurückkommen. Bianca De Rubertis, Mitarbeiterin der Eventagentur, die die Manager betreut, erklärt die Wirkungsweise des Workshops: „Hier sind sie ausgelassen und haben Spaß, danach kehren sie mit neuen Energien an den Arbeitsplatz zurück.“ Außerdem würde die Verbindung zu den Unternehmen gestärkt.

Für das üppige Budget besorgt Max Weber Spraydosen und zündet die Mülltonne an. Das Gangster-Image soll seinen Marktwert erhöhen. Weswegen er als Jugendlicher von der Polizei gesucht wurde, wegen seiner Mercedes-Stern-Sammlung oder der beschmierten Häuserwände, das ist den Franzosen im Prinzip egal. Sie begrüßen diese neue, ungekannte Form der Authentizität, auch wenn sie nicht authentisch ist, nicht im Moment.

Drei Tage verbringen die Manager in Berlin. In der Zeit sollen sie sich ablenken und das wahre, wilde Berlin erleben. Sie kennen keine Details des dreitägigen Programms, der Überraschungseffekt ist Teil des Selbsterfahrungstrips. Ein unkonventioneller Ausflug, so wirklich wie Disneyland. Sie wissen es noch nicht, aber morgen werden sie sich in Trabis ein Rennen liefern. Auch das ist scheinbar Berlin.

Die Manager steigen aus der Wolke von Sprühfarbe und Feuerfunken wieder in den dunklen, klimatisierten Reisebus. Noch zwei Tage dürfen sie sich austoben, bis sie in ihre Welt zurückfahren, wo wieder der Profit zählt und schwarze, schnörkellose Zahlen.

Ein Tourist kommt vorbei und fragt, ob die Kunstwerke verkäuflich seien. Dann ist die Mülltonne ausgebrannt.

Sie qualmt nur noch.