Kitsch & Klasse

Heute, 21 Uhr, ARD, 52. Eurovision Song Contest aus Helsinki. 24 Lieder sind im Finale dabei – hier die Prognosen und Nachrufe

VON IVOR LYTTLE & JOHANNES KRAM

Vorrunde vom Donnerstag. Welche zehn Songs es ins heutige Finale schafften, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Bitte in die Liste nachtragen!

1. Bulgarien – Elitsa Todorova & Stoyan Yankulov: Water. Ein Lied kann eine Trommel sein. Ethnotechno, der unziemlich schnell auf den Geist geht!

2. Israel – Teapacks: Push The Button. 25 Jahre ein bisschen Frieden haben nichts bewirkt. Jetzt rüstet Israel musikalisch halbkrawallig auf: spaßig!

3. Zypern – Evridiki: Comme çi, comme ça. Ohne Worte – als wär’s ein Stück von Ralph Siegel. Veteraninnen verdienen unseren Respekt!

4. Weißrussland – Koldun: Work Your Magic. Sänger Dmitrys Mutter, Gründerin des Lady-Di-Fanclubs von Minsk, wollte immer eine Tochter wie Di – mit ihrem Filius gelang ihr das fast. Der gewann bei „Russland sucht den Superstar“: unbegreifliches Land.

5. Island – Eiríkur Hauksson: Valentine Lost. Wer die Scorpions mag, kann jetzt die Augen zumachen und sich ein paar hässliche alte Männer vorstellen.

6. Georgien – Sopho Khalvashi: Visionary Dream. Kate Bush für Anfänger. Für einen Eurovision Song Contest (ESC) wohl zu schräg. Georgien, erstmals beim ESC dabei, will ihr ein stripteasefähiges Kleid empfehlen.

7. Montenegro – Stevan Faddy: Ajde kroci. Einschläfernde Easy-Rider-Nummer. Aber Stevan hat Charme und schottische Vorfahren. Vielleicht rockt er ja wenigstens den Saal.

8. Schweiz – DJ Bobo: Vampires Are Alive. Auch über Untote sollte man nur Gutes sagen. Dem verdienten Kindertechnomacher wünscht man, dass er das Event in Würde hinter sich lässt.

9. Moldawien – Natalia Barbu: Fight. Die Dame rockt, geigt und schreit um ihr Leben. Wir sollten sie erhören!

10. Niederlande – Edsilia Rombley: On Top Of The World. Ihr Mann hat ihr dies Lied gestrickt. Scheidungsgrund.

11. Albanien – Frederik Ndoci: Hear My Plea. Hört sich an wie eine fiese Parodie auf einen Eurovisionssong aus, sagen wir, Albanien. Ist aber ernst gemeint. Favorit für die rote Laterne.

12. Dänemark – DQ: Drama Queen. Love it or hate it. Die perfekte Dancenummer und Peter Andersen als Fummeldiva das perfekte neue Role Model für Europas Frauendarsteller. Viva La Diva könnte wieder mal gewinnen. Sein Mann hat das Kleid geschneidert.

13. Kroatien – Dragonfly feat. Dado Topic: Vjerujem u ljubav. Frauen regieren nicht die Welt. Wenn’s so wäre, dürfte die Sängerin von Dragonfly mit ihrer tollen Stimme allein auftreten und müsste sich nicht neben den Altrocker Dado und seine Kumpels stellen.

14. Polen – The Jet Set: Time To Party. In Polen gedeihen nicht nur die Kartoffeln, auch die Musikproduktionen. Diese will zu viel: Manhattan Transfer meets Britney Spears meets Rap. Mal was anderes, sexy auf alle Fälle.

15. Serbien – Marija Serifovic: Molitva. Was für eine Energie! Für Marija, keine konventionelle Schönheit, mit ihrer kraftvollen Ballade könnte der Auftritt der Durchbruch sein. Hoffentlich meint es die Bildregie gut mit ihr.

16. Tschechische Republik – Kabát: Mála dáma. Diese Jungs liefern das ESC-Debüt ihres Landes – machen auf böse Rocker. Wer schon immer gegen die Eurovisionsosterweiterung war, wird sich jetzt bestätigt fühlen.

17. Portugal – Sabrina: Dança conmigo. Sollen sich mal ein Vorbild an Finnland nehmen: Immer verlieren, plötzlich gewinnen. Das Lied macht alles zunichte. Süß! Portugal nutzt die drei Minuten nur für die Präsentation einiger neuer Tanzschritte für die beginnende Cluburlaubsaison an der Algarve.

18. Mazedonien – Karolina: Mojot svet. Eher gediegener Ethnopop. Tausendmal gehört, tausendmal ist nix passiert. Aber Karolina gibt nie auf: Sie ist das zweite Mal beim ESC dabei.

19. Norwegen – Guri Schanke: Ven a bailar conmigo. Der schwedische Komponist Thomas G:son hat auch den spanischen Beitrag geschrieben – und das ist kein gutes Omen. Guri selbst müht sich redlich und schreckt auch vor einem tiefen Griff in die Federklamottentrickkiste nicht zurück.

20. Malta – Olivia Lewis: Vertigo. Nerviges Ethnogetanze, -gefiedel und -rumgesinge. Aber wir wollen uns nicht beschweren: Noch voriges Jahr hörte sich fast die Hälfte aller Beiträge so an.

21. Andorra – Anonymous: Let’s Save The World. Britpop aus den Pyrenäen! Diese Teenieband (einer ist sogar so jung, dass er gar nicht auf der Bühne dabei sein wird!) will mit ihrem Lied die Welt vor Umweltzerstörung retten. Idealismus, der belohnt werden muss. Ehrlich!

22. Ungarn – Magdi Rúzsa: Unsubstantial Blues. Ja! Ja! Eine richtig gute Bluesnummer beim ESC. Der Beitrag ist exemplarisch für die große Bandbreite guter Titel verschiedener Musikstile beim diesjährigen Event.

23. Estland – Gerli Padar: Partners In Crime. Sie muss die unheilvolle Allianz zwischen Komponist und Texter dieses Titels vortragen. Was ist bloß aus diesem Siegerland von 2001 geworden?

24. Belgien – The Krazy Mess Groovers: Love Power. Nicht so richtig crazy, und so richtig grooven tun sie auch nicht, „Mess“ ist jedoch treffend.

25. Slowenien – Alenka Gotar: Cvet z juga. Alenka, mach sie alle platt! Klassikpop ist zwar schon ziemlich abgelutscht, aber diese Frau hat das Zeug, alle zu verblüffen. Hoffentlich bewältigt sie ihr Lampenfieber: „It ain’t over till the fat lady sings.“

26. Türkei – Kenan Dogulu: Shake it up shekerim. Wer hinhört, könnte merken, dass die Hälfte des Textes auf Englisch gesungen wird. Ansonsten gut geschüttelte Achtzigerdisco.

27. Österreich – Eric Papilaya: Get A Life. Nie war es so leicht, dieses Land nicht mal zu ignorieren. Eine Rockhymne? Bon Jovi hat nicht alle Jünger verdient!

28. Lettland – Bonaparti.lv: Questa notte. Das Milk-and-Honey-Halleluja-Prinzip: Bei jeder Strophe steigt ein zusätzlicher Sänger dieser sechs Tenöre ein. Bombastisches Ende: Kitsch. Pathos. Klasse. Könnte funktionieren.

Finale, heute, 21 Uhr, ARD. Wer’s aus der Vorrunde ins Finale geschafft hat, wird Kommentator Peter Urban mitteilen. Abstimmen dürfen später auch alle in der Vorrunde gescheiterten Länder. 2.436 Punkte stehen insgesamt zur Verteilung an.

1. Bosnien-Herzegowina – Marija Šestić: Rijeka bez imena. Eine bezaubernde Sängerin singt Leises, das bitte nicht überhört wird! Ihr Vater hat die bosnische Nationalhymne komponiert.

2. Spanien – D’Nash: I Love You Mi Vida. Ooops, they did it again! Könnte auch diesmal reichen für einen der letzten Plätze. Liebe Spanier, was habt ihr euch denn dabei gedacht? Wenn Boygroup, dann bitte richtig! Abstoßend.

3. Qualifikant vom Donnerstag.

4. Irland – Dervish: They Can’t Stop The Spring. Beim Rekordsieger Irland muss man immer etwas genauer hinhören. Diesmal gibt es traditionelle unverkitschte irische Musik. Ein bisschen Friedensbotschaft, ein bisschen Hand in Hand – und der Titel ist sogar ein Zitat von Dubček zum Prager Frühling. Aber alles so, dass es nicht wehtut. Fein!

5. Finnland – Hanna Pakarinen: Leave Me Alone. Hat was von Roxette, die mit so was Weltstars wurden, und auch was von Gracia, die damit den Grand Prix Eurovision 2005 schändete. Finnland war oft Letzter. War Lordi nur ein Einzelfall?

6. Qualifikant vom Donnerstag.

7. Qualifikant vom Donnerstag.

8. Qualifikant vom Donnerstag.

9. Litauen – 4Fun: Love Or Leave. Warm-ums-Herz-Musik mit akustischen Gitarren und einer Sängerin mit Vaya-Con-Dios-Wehmut im Timbre.

10. Griechenland – Sarbel: Yassou Maria. Nach einer neuen Studie sind die Griechen die Europäer mit dem meisten Sex. Jetzt schicken sie uns den heterosexuellen Bruder von Ricky Martin und wollen uns zeigen, wie’s geht. Shake It Up, Shake It Up?

11. Qualifikant vom Donnerstag.

12. Schweden – The Ark: The Worrying Kind. Eine Glamour-Rock-Show mit einem menschenfängerischem Frontmann mit Kajal um die Augen, Esprit, Schmuselächeln, Pailletten und nackter Hühnerbrust.

13. Frankreich – Les Fatals Picards: L’amour à la française. Liebe kennt keine Grenzen mehr, behaupten die Franzosen. Schöne Partynummer!

14. Qualifikant vom Donnerstag.

15. Russland – Serebro: Song #1. So was würde man eigentlich von den Briten erwarten. Aktueller Pop vom Feinsten! Einer der wenigen Songs, die es europaweit in die Charts schaffen könnten. Letztes Mal war Russland Zweiter. Dank dieser drei spicigen Girls, die absolut lampenfieberfrei auftreten werden, könnte es diesmal zur Krone reichen.

16. Deutschland – Roger Cicero: Frauen regier’n die Welt. Hätte dieser handwerklich perfekte Jazzer mehr daran geglaubt, dass er den deutschen Vorentscheid gewinnen kann, hätte er wohl ein anderes Lied ausgesucht. Wir werden nie erfahren, was damit dann alles möglich gewesen wäre. Ein krasser Auftritt wird’s wohl so und so.

17. Qualifikant vom Donnerstag.

18. Ukraine – Verka Serduchka: Dancing Lasha Tumbai. Der Beitrag, der am meisten polarisiert: Ist das allerübelster Trümmertuntentrash? Oder ist das allerallerübelster Trümmertuntentrash, also irgendwie schon wieder gut?

19. United Kingdom – Scooch: Flying The Flag. Bereits im letzten Jahr dachte man, das Mutterland des Pop sei mit seinem singenden Schulmädchenreport ganz unten angekommen. Doch einer geht noch, hat man sich gedacht und verwundert nun ganz Europa mit einem äußerst merkwürdigem Flugbegleiterklimbim.

20. Rumänien – Todomondo: Liubi, Liubi, I Love You. Das kommt bestimmt an: Jede Strophe dieses netten Schunkellieds wird in einer anderen europäischen Sprache gesungen. Deutsch haben sie vergessen. Dürfen wir das durchgehen lassen?

21. Qualifikant vom Donnerstag.

22. Qualifikant vom Donnerstag.

23. Armenien – Hayko: Anytime You Need. Frei nach Günther Oettinger könnte man behaupten, dass der Armenier als solcher keine schwülstigen, triefenden Liebesballaden mag. Ja, dass er sogar ein regelrechter Gegner solcher schwülstigen, triefenden Liebesballaden sei. Könnte man behaupten. Aber dann müsste man sich wohl später von sich selber distanzieren.

24. Qualifikant vom Donnerstag.

IVOR LYTTLE, 46, Hafenausrüstungsbetriebsmanager, ist Herausgeber des Fanmagazins Euro Song News, lebt in Bremen; JOHANNES KRAM, 40, Autor und Medienmanager, entwickelte 1998 Konzept und Realisation der Guildo-Horn-Kampagne („Kreuzzug der Liebe“); 2001 und 2002 brachte er in den deutschen Vorentscheidungen Joy Fleming jeweils auf den zweiten Platz. Er lebt in Berlin