24 stunden spreebogen, folge 3
: Von 2 bis 3 Uhr

Na klar. Man kommt sich ein bisschen albern (aber auch ziemlich heroisch) vor, wenn man um diese Zeit durchs Regierungsviertel schlendert. Immerhin: So ganz allein ist man hier dann doch nicht inmitten der Nacht. Von der Spree schallt helles Gelächter herüber. Sechs Jugendliche stehen zusammengedrängt wie eine kleine Herde am Ufer, wissen nicht, wohin mit sich, und versuchen sich mit Sprüchen gegenseitig zu überbieten. Und im Hauptbahnhof sind auch noch Menschen.

Ein seriös wirkender Mann sitzt auf einer Bank, hat den Kragen aufgestellt und schläft im Sitzen auf einer Bank, eine Aktentasche neben sich auf dem Boden. Die Service-Points an beiden Ausgängen sind mit jungen Frauen besetzt, beide lesen gelangweilt. Drei Reinigungskräfte gehen irgendwohin. Eine Jungstruppe steht irgendwo herum. Bei McDonald’s wird aufgeräumt. Alle anderen Geschäfte sind dunkel, bis auf den „Obsttresen“, bei dem man sogar noch frisch gepresste Säfte, Salate und Sandwiches kaufen kann, was zwei Polizisten dann auch tun. Der einzige Zug dieser Stunde fährt um 2.21 Uhr, RE 38058, von Fangschleuse über Erkner kommend, noch weiter bis zum Bahnhof Zoo – wo um diese Zeit bestimmt mehr los ist. Der nächste Zug ist für 4.14 Uhr angekündigt, nach Frankfurt (Oder).

Man kann im Hauptbahnhof unabgelenkt Architekturstudien treiben, hell erleuchtet sind alle Etagen. Am eindrücklichsten aber sind die Geräusche. Die Rolltreppen, die auch ohne Menschen fahren, quietschen leise. Und dann hallt da noch ein hoher, regelmäßig an- und abschwellender Ton durch alle Etagen. Ich kann ihn erst nicht zuordnen. Er klingt irritierend wehklagend. Ich will ihn schon mit dem Dinosaurierskelett in Verbindung bringen, das, frisch restauriert, im Bahnhof ausgestellt wird, bevor es ins Naturkundemuseum zurückmuss. Doch dann sehe ich den Verursacher: ein großes Werbeplakat unter der Decke, das mechanisch bewegt wird und offenbar Öl braucht. Ob man um diese Zeit eher Jäger oder eher Sammler von Eindrücken sein muss, ist das Letzte, was ich in dieser Stunde denke.DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel in der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. Karsten Thielker begleitet die Reihe fotografisch. Das Ganze begann um Mitternacht und wird 24 Folgen umfassen, bis ein Tag umschritten ist. – Von 3 bis 4 Uhr: am kommenden Samstag