Kampf der Kinderkrieger

In Berlin-Prenzlauer Berg werden Grundschulen zu Sardinenbüchsen. In den kommenden Jahren verdoppelt sich die Zahl der Erstklässler, neun Schulen rund um den Kollwitzplatz müssen dann nicht wie heute 700, sondern 1.400 ABC-Schützen aufnehmen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Ein solcher Schulstau ist einmalig in Deutschland. Nicht einmal im geburtenreichsten Bezirk Deutschlands, in Cloppenburg (1,9 Kinder je Frau), gibt es das. Normalerweise staut es sich in Bildungseinrichtungen ganz unten, in den Kinderkrippen, wo Eltern verzweifelt Plätze suchen. Oder ganz oben, in den Unis, wo die Zahl der Studierenden bis 2011 um rund 400.000 zunehmen wird. Nur die Schulverwalter in der Hauptstadt haben das Kunststück fertiggebracht, einen Babyboom zu übersehen. Und sie holen bereits zum nächsten Schlag aus – gerade wurde die Schließung der freien Schülerläden angeordnet. Deren Kinder müssen nach den Ferien in die Horte der überlaufenen Schulen. CIF

AUS BERLIN-PRENZLAUER BERG GRIT WEIRAUCH

Anna ist schlecht drauf. Das geht jetzt schon seit Ostern so. Auf Schule hat sie überhaupt keine Lust mehr, sagt ihre Mutter. Dabei soll die Sechsjährige im Sommer in die erste Klasse kommen. Andrea Hering vermeidet es, mit ihrer Tochter über den Schulanfang zu sprechen. Leicht ist das nicht. Der ganze Prenzlauer Berg spricht gerade über das Thema Grundschulen. Überall im Ostberliner Szenebezirk, im Biomarkt, auf dem Spielplatz am Kollwitzplatz, trifft die Mutter zweier Kinder Eltern, denen es ähnlich geht. „Man kann mit kleinen Bürgern so nicht umgehen,“ sagt die 38-Jährige dann wütend. Auch mit ihr kann man so nicht umgehen. Andrea Hering weiß sich zu wehren.

Die Wut kam im April. Da fand sie in ihrem Briefkasten den Schulbescheid für Anna. Nicht in die am nächsten gelegene Grundschule soll ihre Tochter im August kommen, sondern in eine jenseits der Schönhauser Allee, dreißig Minuten Fußweg entfernt. Entschieden hat das Schulamt nicht nach nachvollziehbaren Kriterien, entschieden hat das Los. Es gab für Annas zuständige Grundschule einfach zu viele Anmeldungen.

„Ich könnte damit leben“, sagt Mutter Hering, „wenn man mich vorher informiert hätte.“ Aber so geht niemand mit Andrea Hering um, ihre Tochter wird auf keinen Fall auf diese Schule gehen. „Es ist nicht zu verstehen“, sagt sie, „warum eine verfehlte Schulpolitik auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden soll.“

In der im Verwaltungsdeutsch Planregion 2 genannten Gegend, zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee, wo Deutschlands Babyboomer wohnen und seit Jahren die Kinderwagen Kolonne fahren, kann jedes vierte Kind nicht die Schule in seiner Nähe besuchen. Denn die sind überfüllt. Es ist, als hätte das Schulamt nicht mitbekommen, wovon die ganze Republik seit Jahren spricht: dass im Prenzlauer Berg, entgegen dem bundesdeutschen Trend, massenhaft Kinder geboren werden.

In den vergangenen sechs Jahren hat sich die Zahl der Erstklässler von 256 auf 470 fast verdoppelt. Aber statt die Grundschulplätze im Bezirk zügig zu erhöhen, wurden in den vergangenen Jahren sogar zwei Schulen geschlossen, die Grundstücke vom Bezirk verkauft. Dabei konnte jeder auf der Straße sehen, was die Verwaltung beharrlich ignorierte: immer mehr Familien mit Kindern bevölkern die Cafés, Parks und Spielplätze. Angezogen werden sie von den schick sanierten Altbauten, dem coolen Ruf als Ausgeh- und Kinderbezirk und dem umfassenden Kitaangebot. Nun ist die Krise da, denn bei der Verwaltung hört die Kinderfreundlichkeit auf. Die moderne Elterngeneration will gute Schulen für ihre Kids. Die besten natürlich.

Familien im Widerspruch

In den nächsten Jahren wird sich die Situation weiter verschärfen. Überall werden familienfreundliche Wohnungen und Lofts gebaut. Und auch ohne die wird die Zahl der schulpflichtigen Kinder sich bis 2012 noch einmal verdoppelt haben. Jedes Jahr kommen fast hundert kleine Prenzlauer Berger hinzu – genug, um mindestens drei zusätzliche erste Klassen rund um die angesagten Quartiere aufzumachen. Eine neue Schule soll aber frühestens in zwei Jahren eröffnet werden. Bis dahin müssen die Kinder eben auf andere Schulen – Entscheidung per Losverfahren. Die Eltern sprechen von Zwangsverschickung und gehen auf die Barrikaden. Vor allem die mit mehreren Schulkindern, die nun unterschiedliche Schulwege haben.

Jede fünfte betroffene Familie hat im Eilverfahren gegen den Schulbescheid geklagt. Unter den 200 Widersprüchen, die jetzt dem Schulamt vorliegen, ist auch der von Familie Hering. Jedes Jahr bekommt das Amt Ärger mit den Eltern wegen der Grundschulanmeldungen in Berlin, aber diesmal ist der Stress organisiert. Denn Leute wie Andrea Hering mobilisieren die Eltern. Hering hat eine Bürgerinitiative gegründet, sie füttert E-Mail-Verteiler, hält Kontakt mit den Medien, lässt sich von ihrem Anwalt die Feinheiten des Schulgesetzes erklären. Und sie organisiert Protestveranstaltungen.

So wie an diesem Mittwochnachmittag: Rund 50 Eltern versammeln sich mit ihren Kindern zu einer Demo auf dem Kollwitzplatz. Lokalreporter, ein Kamerateam sind auch da. Die Kleinen klettern auf die Bronzeskulptur von Käthe Kollwitz, sie halten Plakate hoch. Die haben ihre Eltern gebastelt. Mütter, Väter, ElternvertreterInnen greifen zum Megafon und lassen ihren Frust raus. Die Schulverwaltung sei ein Skandal, wettert ein Mittvierziger. Er trägt einen schwarzen Anzug samt neongrüner Krawatte. „Die verstehen nicht, dass die jetzt Akademiker vor sich haben.“ Und die wollen, dass ihre Kinder das Beste bekommen. Seinen Namen will der Mann nicht nennen, er arbeite schließlich als Chefreporter bei einem Berliner Boulevardblatt. Seine Formulierungen sind drastisch: „Die Thüringer Lösung“, sagt er, „von wegen Kinder wegsperren und in die Kühltruhe stecken – mit uns nicht!“

Auch die Grünen nehmen sich der frustrierten Eltern an. Sie haben in den Bezirksverordnetensaal eingeladen, um aus den Forderungen Politik zu machen. Zwei Mütter zeigen eine Powerpoint-Präsentation: kurzfristige Lösungen, mittelfristige Lösungen, Sonderfälle, verschachtelt wie das Organigramm einer Verwaltung. Auch Andrea Hering sitzt mit am Tisch. Vor einigen Tagen hat sie schon anderen Eltern und der Schulstadträtin die Situation dargelegt, auch abends nach der Arbeit. Hering trägt ein Kleid über der Jeans und sie spricht laut – mit einer Stimme, die sich schwer unterbrechen lässt. „Wir sind ganz klar bestraft, wenn wir als Familie mehr als ein Kind haben“, sagt sie. Das Losverfahren müsse umgehend rückgängig gemacht werden, alle Beteiligten sollten noch einmal neu miteinander reden. Und: „Die Anhörung der Eltern sollte unter Beachtung altersangemessener Schulwege erfolgen.“

Es ist jene Sprache, die sonst Menschen wie die SPD-Schulstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz benutzen. Aus deren Mund kommen aber keine Vorschläge. Man befinde sich in einer Zwischenphase, wehrt sie ab, und müsse auf die Gerichtsurteile warten. Und sie schiebt den Eltern die Schuld zu: Eine Einigung könne nur zustande kommen, wenn alle ihre Klagen zurücknehmen, sagt die Schulstadträtin. Hering entgegnet: „Wir haben keine andere Möglichkeit als zu prozessieren, um in der Verwaltung etwas zu bewegen.“

Bisher nämlich stellt das Amt sich stur. Zwar müssten für alle Geschwisterkinder Ausnahmen vom Losverfahren gemacht werden, meint Stadträtin Zürn-Kasztantowicz. Aber dies sei Sache des Landes Berlin und bis zu den Sommerferien werde das eh nicht mehr umgesetzt. Ansonsten gelte die Position der rot-roten Landesregierung: 1,8 Kilometer darf der Schulweg lang sein, so steht es im Schulgesetz. Und außerdem habe der Bezirk das Problem keineswegs verschlafen, es gebe für das beginnende Schuljahr ausreichend Plätze. Nur eben nicht dort, wo diese Familien wohnen, und auch nicht dort, wo sie ihre Kinder gern zur Schule schicken wollen.

Ost-Flair mit Thälmann

Volker Lotties sitzt in seinem Büro in der dritten Etage eines grauen Betongebäudes. In der DDR wurde er Direktor genannt, heute heißt er Schulleiter. Der ganze Streit mit dem Schulamt sei ein Stellvertreterkrieg, murmelt der Mann mit den schwarz-grauen Haaren in seinen Schnauzbart, der ihm über die Oberlippe hängt. Seine Grundschule am Planetarium im Thälmann-Park ist so eine, an die viele der Babyboomer ihre Kinder nicht schicken wollen. Wegen des Umfelds – zwar schön grün, aber mitten in einer Neubausiedlung gelegen. Noch immer steht hier ein überdimensioniertes Denkmal des Arbeiterführers Ernst Thälmann, „Rot Front“ prangt in großen Lettern. In den 80er-Jahren war hier das Vorzeigeviertel der Republik, verdiente Arbeiterveteranen und kinderreiche Familien zogen ein. Heute sind die Wohnungen vor allem günstig.

Es gebe Berührungsängste, sagt Lotties, zwischen den Bewohnern östlich und westlich der Prenzlauer Allee. Manch einer von der anderen Seite habe noch nie einen Schritt in den Park getan. „Das Gebiet riecht für viele vom Kollwitzplatz nach Erich Honecker, nach PDS, nach Stasi.“

Jetzt sollen nach den Plänen der Schulverwaltung 30 Kinder ausgerechnet von der Thomas-Mann-Grundschule zu Lotties kommen. Die Mann-Schule ist bekannt für ihre musische Ausrichtung und bei Eltern so begehrt, dass viele sich zum Schein in diesem Schulbezirk einmieten, damit ihr Kind individuell musikalisch gefördert wird. Doch statt Musik gibt es bei Lotties mehr Mathe und Sport – statt Bach zu üben, könnten die Kinder das Rettungsschwimmerabzeichen vorbereiten und an Computerolympiaden teilnehmen.

Gerade mal drei Familien haben sich nach dem Erhalt ihres Schulbescheids die Grundschule am Planetarium angeschaut. Laut Lotties waren sie „begeistert“. Der Rest hat Anwälte eingeschaltet. „Die bewegen sich nicht“, ärgert sich der Schulleiter über jene „Durchreißer, die nach 22 Uhr mit ihren Kindern auf dem Schoß beim Prosecco über Schulpolitik diskutieren“. Keiner von denen habe sich auf die Homepage der Schule begeben – „die haben die Kinder gemacht“. Überhaupt interessiere sich diese Klientel nicht für die Inhalte an seiner Schule. „Dabei passiert hier so viel Schönes.“

In ein paar Wochen veranstaltet Lotties wie jedes Jahr ein Familiensportfest, mit Gummistiefelweitwerfen und Teebeutelschießen. Er will auch jene 30 Eltern mit ihren Kindern einladen und ihnen dann die Schule zeigen. Ob sie sich in den Thälmann-Park bewegen müssen, entscheiden die Gerichte in diesen Tagen. Was immer sie sagen werden – Andrea Hering und die anderen werden um jeden Meter Schulweg kämpfen.