Verfassung durchkreuzt Schließungspläne

Aids-Beratungsstelle in Schöneberg darf doch nicht dichtgemacht werden. Senat hat Verfassungspassus übersehen. Grüne wittern „Präzedenzfall“

VON ANTJE LANG-LENDORFF

Eigentlich war längst alles klar: Die sechs Berliner Aids-Beratungsstellen und sozialmedizinischen Dienste sollten aus Kostengründen zu drei sogenannten Zentren für sexuelle Gesundheit und Familienplanung zusammengelegt werden. Ein Opfer dieser Maßnahme: die Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten am Innsbrucker Platz in Schöneberg. Obwohl sie in der Nähe des Schwulenkiezes liegt, sollte sie geschlossen werden. Die Mitarbeiter wehrten sich – und akzeptierten die Vorlage der Senatsverwaltung für Gesundheit dann doch. Die Mehrheit im Rat der Bürgermeister hatte die Entscheidung schließlich abgesegnet.

Nun ist wieder alles offen. Denn der Senat hat einen Passus der Landesverfassung nicht bedacht. Der besagt, dass der Senat die „örtlichen Zuständigkeiten“ nur „im Einvernehmen mit den Bezirken“ festlegen kann. „Im Einvernehmen heißt: Es darf keine Gegenstimme geben“, sagte Sibyll Klotz, Gesundheitsstadträtin der Grünen in Tempelhof-Schöneberg gestern. Ihren Angaben zufolge stimmten aber vier Bezirksbürgermeister im Rat gegen die Umstrukturierung der Gesundheitsdienste. „Der Senat hat das vergeigt. Die Verordnung ist rechtswidrig“, freute sich Klotz, die die Beratungsstelle in Schöneberg halten will.

Eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Gesundheit räumte gestern ein, dass der Beschluss nicht gegen den Willen einzelner Bezirke durchgesetzt werden kann. „Wir müssen jetzt eine Konsenslösung finden. Das Ganze verzögert sich erst mal.“

Der entscheidende Absatz 5 im Artikel 67 der Berliner Verfassung ist noch relativ neu. Er trat 2001 in Kraft, als die Bezirke fusionierten und die Kompetenzen zwischen der Hauptverwaltung und den Bezirken neu verteilt wurden. Der Absatz schafft die Möglichkeit, dass ein oder zwei Bezirke Aufgaben für alle anderen übernehmen können. Doch er sichert auch deren Mitsprache: Alle betroffenen Bezirke müssen mit einer solchen Regionalisierung einverstanden sein. Der Senat kann sich über eine Ablehnung nicht hinwegsetzen. „Keiner soll sich über den Tisch gezogen fühlen“, erklärt Michael Kube, Referent für Staatsrecht in der Innenverwaltung.

Glück für die Beratungsstelle in Schöneberg. Sie könnte nun von dieser Regelung profitieren. „Dies ist der erste Fall nach der Änderung der Verfassung, bei dem keine einvernehmliche Lösung gefunden wurde“, sagte Ekkehard Band (SPD), Bezirksbürgermeister von Tempelhof-Schöneberg. Für Sibyll Klotz ein Präzedenzfall. „Man wird in Zukunft nicht über die Bezirke hinweg entscheiden können. Damit wird der Senat leben müssen.“

In der zentralen Verwaltung merkt man jetzt offenbar, dass man mit dem Absatz der Verfassung noch zu tun haben wird. In einem Papier der Gesundheitsverwaltung gibt Staatssekretär Benjamin Hoff (Linkspartei) zu, dass die Regelung und ihre Konsequenzen „allen Beteiligten“ lange nicht präsent war. Er schreibt: „Ob sich der Verfassungsgesetzgeber mit der Norm letztlich einen Gefallen getan hat, kann und muss wohl dahingestellt bleiben.“