Kunst-Boom: Leben in Nischen

Der Kunst ist diesen Sommer kein Entkommen. Sogar in der "Elle" taucht sie auf - und wird zum Gestyle. Zeit, das documenta-Motto "Ist die Moderne unsere Antike?" zu hinterfragen.

Frau Johansson mit Vuitton-Chef Lalonde - Herr der Handtaschen Bild: ap

Ist die Winter-Kollektion 2007, die Marc Jacobs für Louis Vuitton entwarf, eine Hommage an a) Jan Vermeer, b) Adrian Brouwer, oder c) Jan Steen? Mit solchen Fragen sehen sich LeserInnen von Modezeitschriften heutzutage konfrontiert. Da sich die Marc-Jacobs-Kollektion mit ihrem Namen "Girl with a Monogrammed Bag" deutlich auf Peter Webbers Film "Girl with a Pearl Earring" bezieht, ist die Antwort leicht. Erst kürzlich verhalf Webbers Film Jan Vermeers 1665 entstandenem Gemälde "Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge" zu neuerlicher Popularität. Was man sonst noch wissen sollte: Scarlett Johansson, die Hauptdarstellerin des Films, hatte einen Gastauftritt bei der Präsentation von Marc Jacobs.

Die Frage entstammt dem "großen Elle-Test" im Special "Kunst", das unter anderem Samuel Keller vorstellt, der sich gerade als Herrscher der Art Basel und der Art Basel/Miami Beach verabschiedet hat, oder Tipps fürs "Kunst-Shopping" gibt. Vom großen Kunstsommer 2007 ist nirgendwo die Rede. So wenig kenntnisreich die 20 Seiten zusammengestellt wurden, so deutlich belegen sie: Kunst ist das Thema der Stunde. An ihm kommt keiner vorbei. Auch wenn dabei die Anfang Juni drohende Ballung von Großereignissen der zeitgenössischen Kunst wie der Biennale in Venedig, der documenta 12, den Skulptur Projekten Münster und der Art Basel glatt übersehen wird. Nun ja, der Reigen wird trotzdem Millionen von Besuchern anziehen. Denn nichts, so scheint es, berechtigt mehr, Anspruch darauf zu erheben, auf dem Laufenden zu sein, als das Interesse an zeitgenössischer Kunst.

Das gilt freilich nicht nur für den richtigen Konsum und Lifestyle, sondern ebenso für gesellschaftliches oder politisches Engagement. Selbst die Demonstranten beim G-8-Gipfel werden - oder wollen? - der Kunst nicht entkommen. "Art goes Heiligendamm" oder "BALANCE!" heißen die Projekte, in denen das Politische ästhetisch und das Ästhetische politisch wird. Zu welchem Nutzen und Frommen ist zwar auch hier nicht recht ersichtlich. Doch verdeutlicht dies nur die eigentliche Rolle der Kunst. Es braucht sie, weil nach herrschendem Konsens nur der, der die Kunst ins Spiel bringt, auf der Höhe der Zeit agiert.

Wo Kunst ist, ist auch der Weltgeist. Oder, um Hegel mit Marx zu lesen, in jedem Fall der Weltmarkt. Seine Protagonisten fallen zu hunderten in ihren Privatjets auf den internationalen Kunstmessen ein. Sie bieten auf den großen Auktionen in New York und London und sorgen für immer neue, noch abstrusere Preisrekorde für zeitgenössische Kunst. Und dann liebt der Weltmarkt auch noch die Weltgeschichte! Zumindest in Form der Kunstgeschichte und dem "Girl with a Monogrammed Bag". Leitet sich aus dieser Verbindung von Markt und Kunst die derzeitige Geltung der Kunst her? Die Gewissheit ihrer Bedeutung als dem Ausdrucksmittel zeitgenössischer Fragen, Themen oder Verhaltensweisen schlechthin? Die Sicherheit, jederzeit, bei jedermann, an jedem Ort mit Aufmerksamkeit und Interesse für die Kunst rechen zu dürfen? Und falls nicht, sie fraglos einfordern zu können? Gleichgültig, ob es um den alltäglichen Smalltalk geht, den Weltwirtschaftsgipfel in Davos, um die Konsumenten von Klatschpresse und Celebrity-TV oder die sogenannte große Politik, die - aber Hallo - inzwischen weiß, dass sie die Kunst in die Planung eines G-8-Gipfels selbstverständlich einzubeziehen hat.

Tatsächlich werden die Kreise größer, die die Beschäftigung mit Kunst nicht mehr nur tolerieren, sondern im Gegenteil hofieren. Zwar desillusioniert die Art, in der sie ihr neu erwachtes Interesse artikulieren. Verfolgen sie doch meist ganz andere Interessen und Ziele und nehmen auf die Kunst nur Bezug, um dabei von ihr zu profitieren. Doch was hieße, Bannerträger des zeitgenössischen Lebensgefühls zu sein, schon anders? Anderes, als die "Umarmung des Erfolgs" herauszufordern, wie es Kaspar König, Direktor des Museum Ludwig in Köln und Ko-Kurator der Skulptur Projekte Münster, konstatiert? Die Abfolge von Ausstellungen, Messen samt Messesatelliten, von Galeriewochenenden, Biennalen, Projekten an immer extravaganteren Orten, am liebsten am Zaun in Heiligendamm, ist mittlerweile selbst mit Hilfe des raffiniertesten Terminplaners nicht mehr auf die Reihe zu bekommen.

Sobald am 10. Juni die Biennale in Venedig eröffnet, jagt ein Großereignis das andere. Die documenta 12 mit 480 Kunstwerken von rund 100 Künstlern und die Skulptur Projekte in Münster, mit nur 37, allerdings über den ganzen Stadtraum verstreuten Arbeiten, eröffnen eine Woche später, am 16. Juni. Praktischerweise liegt die Art Basel vom 13. bis zum 17. Juni terminlich dazwischen. Doch vielleicht haben die Schwergewichte unter den internationalen Sammlern, die sie nach Europa locken soll, schon in Venedig zugeschlagen? Nein, nicht auf der Biennale, die noch keine Verkaufsausstellung ist, jedenfalls offiziell. Sondern auf der erstmals stattfindenden "Corniche Art Fair". Die Parallelaktion wurde von Jean Jacques Aillagon ins Leben gerufen, dem Direktor des Palazzo Grassi in Venedig, der dem Mega-Sammler und Eigentümer von Christies, Francois Pinault, gehört, und von Daniella Louxembourg, die als Art Consultant unter anderen Ronald S. Lauder berät und mit Simon de Pury, Chef des Auktionshauses Phillips, eine Galerie in Zürich besitzt.

Aber nicht nur der Markt, auch die Museen docken an. Am 31. Mai eröffnet die Einzelausstellung von Anselm Kiefer im Grand Palais in Paris, am 3. Juni die von Richard Serra im MoMA in New York. Zuvor startete in Hannover die Ausstellung "Made in Germany", zu deren Ausrichtung sich das Sprengel Museum, die Kestnergesellschaft und der Kunstverein zusammengeschlossen haben. Das MoMA in Berlin wird nun durch das Metropolitan Museum of Art und eine Ausstellung französischer Meisterwerke des 19. Jahrhunderts aus seinen Beständen ersetzt. Wie zuletzt preist die Neue Nationalgalerie in Berlin ihre Schau flott und flächendeckend an: "Die schönsten Franzosen kommen aus New York". Überhaupt emigriert oder immigriert die Kunst aus allen Teilen der Welt in alle Teile der Welt. Vornehmlich an Finanzhandelsplätze wie Dubai, Schanghai oder Singapur.

Ob dieses Art-Trafficking ein Kollateralschaden jener "Migration der Form" ist, der Roger M. Buergel, Leiter der documenta 12, und seine Ehefrau und Ko-Kuratorin Ruth Noack in Kassel nachspüren möchten, oder ob es sich umgekehrt verhält, ist so einfach nicht zu sagen. Das älteste Exponat der documenta 12 stellt dazu den kunsthistorischen Schlüssel dar, eine persische Zeichnung aus dem 14. Jahrhundert, in der allerdings ein Fluss im chinesischen Stil fließt, weil der anonyme Künstler die dortige Kunst studiert und assimiliert hatte. Das Schlüsselwerk, das heute das Tor für eine Migration der Form und des Lifestyles in aller Herren Länder sowie alle Bildungs- und Finanzschichten hinein weit, weit öffnet, heißt jedenfalls "Girl with a Monogrammed Bag". Da dieses Heute kein Off kennt, arbeitet ihm auch Roger M. Buergel fleißig zu - als "Kunstbetriebsverweigerer", wie er meint.

Nein, es braucht auch heute keinen Wettermann, um zu wissen, woher der Wind weht. Vielleicht braucht es noch ein bisschen mehr Marx, um den Weltgeist wirklich im Weltmarkt aufgehoben zu sehen. Denn ein Rest Unglauben bleibt. Skepsis erregt es, zu sehen, wie diejenigen, die ihren Platz an der Speerspitze sehen, sich dennoch chronisch an der Talsohle der Ereignisse fühlen. Die Umschlagsgeschwindigkeit, mit der heute Kunst erworben und abgestoßen wird, spricht eine deutliche Sprache. Hat der, der schon heute dem misstraut, was er erst gestern erworben hat, sich je auf dem Quivive gewähnt? Skeptisch stimmt auch, dass sich die Sensationen ja keineswegs ereignen. Sie werden, gleichgültig ob es um Ausstellungs-, Messe- oder Auktionsrekorde geht, generalstabsmäßig geplant und abgesprochen, also eigens herbeigeführt und inszeniert. Nicht das Ereignis Kunst setzt sich durch, sondern Marketingstrategien und Insidergeschäfte.

Trotz aller Legitimationsmacht und Dominanz der Aufmerksamkeitsökonomie - der Kunst fehlt der Drive, wie man in den 60er- und 70er-Jahren sagte, als Zeitgenossenschaft noch ein Moment der Notwendigkeit definierte. Wer sich auf ihre Seite schlug, wusste: Das wird dein Leben (und sei es nur deinen Drogenkonsum) verändern. Aus dem aktuellen Anspruch der Kunst, kulturelles Leitmedium zu sein, folgt dagegen, auch alternativlos zu sein. Die Beschäftigung mit Kunst ist Ausweis wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs - kein Gegenvorschlag. Regelmäßig trifft man hier auf regelkonformes Verhalten. Gerade Eigensinn und Abweichung müssen - wollen sie von Erfolg gekrönt sein - ganz und gar angepasst vertreten werden. Ob Galeristen, Künstler, Kuratoren, Kunstvermittler oder -kritiker, die Leute sind smart, flexibel und entgegenkommend; und in diesem Rahmen durchsetzungsfähig und extrem diszipliniert. Ein kindliches Genie zu sein, kann nicht schaden, sofern man so nett und höflich ist wie Jonathan Meese, und enigmatische Arroganz als Warenzeichen des Ausnahmefalls Kunst braucht es geradezu, wenn man ein so unauffälliges und braves Leben führt wie Roger M. Buergel.

Gleichzeitig schwelgt die Kunst, die keine Alternative mehr ist, in der Vielfalt ihrer Möglichkeiten. Fast alles hat seine Berechtigung, Figuration, Abstraktion, New German Painting und (John) Bock(ige) Performances, Videokunst, Kitsch genauso wie die soziologische Vermessung der Welt; jedes Genre, jeder Stil, jeder ästhetische Ansatz und jeder gesellschaftliche oder politische Einfluss und Bezugspunkt, jedes Netzwerk und jede Nische gilt. Wahrscheinlich rührt das Gefühl chronisch an der Talsohle der Ereignisse zu sein, auch aus dieser Auffächerung der Kunstproduktion und -distribution her, die zwangsläufig private Idiosynkrasien stützt, darüber, was als State of the Art gelten darf. Der herrschende Geschmack im Kunstbetrieb ist tatsächlich der Geschmack der Herrschenden, und dass sie ihre Vorlieben weitgehend teilen, heißt nicht, dass sie wissen, was Cutting Edge ist; vielmehr versuchen sie das im wechselseitigen Austausch zu finden oder erfinden. Doch welche Kunst ist darüber hinaus noch interessant und von Belang? Darüber fehlt das Übereinkommen. Denn auch die anderen Teilnehmer des Kunstbetriebs agieren wie Pinault, Flick und Co.; auch sie konstruieren und kommunizieren ihre je eigenen Standards in ihrem je eigenen Netzwerk.

Stets und in all ihren Facetten auf der Höhe der Zeit, ist für die Kunst die Frage nicht mehr zu beantworten, wessen Setzung die größere Überzeugungskraft und in the long run vielleicht sogar Gültigkeit hat. Niemand weiß von einen öffentlichen Streit um einen Künstler oder eine künstlerische Position. Der Streit geht um Personalien oder Besitzansprüche, wie zuletzt in Berlin zu beobachten, im Fall von Peter Klaus Schuster, dem Generaldirektor der Staatlichen Museen, oder der Restituierung eines Kirchner-Gemäldes.

"Was tun?" fragt da nun die documenta 12. Und führt ausgerechnet Lenins berühmt-berüchtigte Schrift von 1902 ins Feld, in der er für ein professionell gemanagtes Herbeiführen der Revolution argumentiert, statt wie Marx auf ihre Unumgänglichkeit zu setzen, den ihr eigenen Drive. Buergel und Noack stellen den Status quo nicht in Frage. An der Spitze der documenta 12 schlagen sie sich auf die Seite der Institution und des Managements. So dürfen sich diejenigen weiterhin an der Speerspitze der Ereignisse wähnen, die sie - dank riesiger Stäbe - wohl kalkuliert definieren, erfinden und promoten. Gegen Zweifel am Sinn solcher Eigenkreationen und am Produktivitätszwang der Apparate helfen nur noch mehr Großereignisse. Sie halten einen so schön in Atem und tatsächlich immer aktuellstens informiert.

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