24 stunden spreebogen, folge 5
: Von 4 bis 5 Uhr

Ein kleines Floß schwimmt auf der Mitte der Spree. Ein Schlauch führt ins schwarze Wasser hinein. Bojen sichern das Terrain. Es wird also getaucht im Zentrum der Macht, direkt vorm Kanzleramt: Nachtarbeit; tagsüber würden die vielen Ausflugsdampfer die Sicherheit gefährden. Über Sprechfunk sind die beiden Männer auf dem Floß mit dem Taucher verbunden. Am Ufer stehend, hört man deutlich seine schweren Atemzüge. Sie klingen wie die Geräusche eines Schläfers, der sich in unruhigen Träumen wälzt.

Geht man, das leicht rasselnde Ein- und Ausatmen im Ohr, einige Meter weiter, sieht man zu dieser Stunde auch sogleich passende Traumbilder. Krieger in römischen Uniformen drängen sich in Dreiergruppen um stählerne Laternenmasten; manche haben Schwerter gezückt, andere schlagen auf Trommeln oder pusten mit überquellenden Augen in antike Blasinstrumente. Daneben paradieren stolze geflügelte Löwen, ein stählernes Schild in der mächtigen Pranke. Das sind die Figuren, die die Moltkebrücke schmücken. Sie wurde in den 1880er-Jahren erbaut, der Triumph von 1870/71 ist ihr deutlich anzusehen – eine der wenigen Überreste, die aus der martialischen Disneyworld-Welt des Wilhelminismus noch ins dezidiert heutige Ensemble des Berliner Regierungsviertels hineinragen. Wenn man vor einem dämmerungsgrauen Wolkenhimmel halb betäubt vor Müdigkeit an ihr vorbeiläuft, können diese Ensembles wie jähe Einblicke in ein kollektives Unterbewusstsein wirken.

Zum Glück gibt es im Hauptbahnhof schon Kaffee. Nichts funktioniert besser, um die Geister der Vergangenheit zu verjagen, als kichernde spanische Touristinnen, die vor einem bedient werden und sich eine halbe Ewigkeit lang nicht zwischen Kaffee und Cappuccino entscheiden können. DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel in der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 5 bis 6 Uhr: am kommenden Samstag