„Das ist die Sehnsucht nach dem ganzen Land“

16. Mai 1967: Ägypten verlegt seine Streitkräfte auf die Sinai-Halbinsel. 22. Mai: Der ägyptische Präsident Abdel-Nasser sperrt für israelische Schiffe die Straße von Tiran, den Ausgang des Golfs von Akaba, Israels Seeweg zum Indischen und Pazifischen Ozean. Radio Kairo verkündet: „Das arabische Volk ist entschlossen, Israel von der Landkarte verschwinden zu lassen.“ 25. Mai: Syrien, Irak, Jordanien und Saudi-Arabien ziehen ihre Truppen an der Grenze zu Israel zusammen. 5. Juni: Israel schlägt zu. Am ersten Tag der später Sechstagekrieg genannten Auseinandersetzung vernichtet die israelische Luftwaffe fast die gesamte Luftwaffe der arabischen Gegner noch am Boden. 6. Juni: Israel erobert Gaza und al-Arisch und steht 100 Kilometer vor dem Suezkanal. Nasser lässt den Kanal blockieren, indem Schiffe versenkt werden. Israelis besetzen Ostjerusalem. 7. Juni: Israelische Panzer erreichen den Suezkanal und Scharm al-Scheich an der Südküste der Sinai-Halbinsel – die Besetzung des Westjordanlands ist abgeschlossen. 8. Juni: Israels Luftwaffe greift irrtümlich das vor der Sinai-Halbinsel liegende US-Nachrichtenschiff „Liberty“ an, 34 amerikanische Seeleute sterben. 9. Juni: Die syrischen Golanhöhen und der Sinai sind nun besetzt. Israel hat binnen weniger als einer Woche ein Gebiet annektiert, das mehr als dreimal so groß ist wie das eigene Staatsgebiet und fast ausschließlich von Arabern bevölkert ist. 10. Juni: Die Vereinten Nationen vermitteln eine Waffenruhe, die Kampfhandlungen enden. AP, TAZ

INTERVIEW ULRICH GUTMAIR

taz: Vor vierzig Jahren tobte der Sechstagekrieg, seine Folgen bestimmen das Leben von Israelis und Palästinensern noch immer. Wie wird im Israel dieser Tage über diesen Krieg diskutiert?

Tom Segev: Offiziell werden weiterhin die ursprünglichen Mythen des Sechstagekriegs wiederholt. Für die Jungen ist das Ganze aber so weit weg wie der Erste Weltkrieg, es gibt viele Wissenslücken. Der wesentliche Unterschied zwischen meiner und der jungen Generation besteht darin, dass wir im Glauben an den Frieden aufgewachsen sind. Wir haben uns immer der Illusion hingegeben, dass die Situation, die 1967 entstanden ist, nur zeitweilig ist, dass die besetzten Gebiete gegen Frieden getauscht werden könnten. Junge Israelis dagegen glauben nicht mehr an den Frieden. Sie streben nicht mehr vollständige Friedensverträge an, sondern beschränken sich darauf, den Konflikt so gut wie möglich zu managen.

Haben sich die jungen Israelis demnach mit dem Status quo abgefunden?

Für diese Generation sind Unterdrückung und Terrorismus Teile ihrer Identität als Israelis geworden. Deswegen ist auch gar nicht zu erwarten, dass sie den gegenwärtigen Zustand als zeitweilig empfinden. Sie blicken auf meine Generation zurück und sagen: Ihr habt versagt. Und ich glaube, sie haben recht. Wir sind mit dem Slogan „Peace Now!“ vierzig Jahre lang keinen einzigen Schritt weitergekommen mit den Palästinensern.

Ihr Buch über den Sechstagekrieg ist in Israel ein großer Erfolg. Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Forschung?

Erstens, dass es sich hier eigentlich um drei verschiedene Kriege gehandelt hat, einen mit Ägypten, einen mit Syrien und einen mit Jordanien. Und dass sie aus unterschiedlichen Gründen geführt wurden. Ich glaube, dass der Krieg mit Ägypten unvermeidlich war, und zwar nicht aus den diplomatischen Gründen, die immer als Erklärung genannt werden, sondern weil die israelische Gesellschaft vor dem Sechstagekrieg schon anderthalb Jahre lang sehr geschwächt war. Als dann die Krise ausbrach, wurde die Angst so groß, dass Israel nicht die Stärke hatte, diesen Krieg nicht zu beginnen. Wenn man die diplomatischen Abläufe betrachtet, sieht man: Hier wurde ein Vorschlag gemacht, und da hätte man noch zwei Wochen warten können, hier vielleicht verhandeln. Das war aber nicht möglich, weil die Gesellschaft in Panik geraten war, und zwar in eine Holocaust-Panik, die nicht etwa manipuliert war, sondern ganz echt.

die Angst, Nasser könnte seine Drohung, die Juden ins Meer zu treiben, wahr machen?

Ja, ich habe ungefähr 500 Briefe gesammelt, die Privatleute aus Israel an Freunde im Ausland geschickt haben. Man sieht da eine wirkliche Holocaust-Angst. Aus diesem psychologischen Grund war der Krieg unvermeidlich, auch wenn die Gefahr, die aus Ägypten drohte, durch die Bombardierung der ägyptischen Luftflotte binnen 80 Minuten beseitigt war. Daher glaube ich, dass die Eroberung der Westbank anders zu erklären ist: Sie beruht in hohem Maße auf einer Sehnsucht nach dem ganzen Land und nach den heiligen Plätzen. Die Möglichkeit dazu hat sich geboten, als Jordaniens König Hussein Jerusalem angegriffen hat.

War die Besetzung der Westbank denn überhaupt geplant?

Israel hat ungefähr sechs Monate vor dem Krieg etwas getan, was es nur selten tut: Es hat nachgedacht. Der Mossad, die militärische Aufklärung und das Außenministerium haben sich zusammengesetzt und überlegt, was eigentlich passiert, wenn König Hussein einmal abgesetzt wird, stirbt oder ermordet wird – gibt es Umstände, die uns zwingen könnten, die Westbank zu erobern? Und wenn wir sie erobern, was machen wir dann damit? Wir können sie wieder zurückgeben, wir können sie annektieren, wir können einen palästinensischen Staat bilden … Alles ist sehr genau analysiert worden, und man kam zu dem Schluss, dass es keineswegs im Interesse Israels wäre, die Westbank zu erobern. Weil dort nämlich die Palästinenser leben.

Warum wurde die Westbank dennoch erobert und besetzt?

Sechs Monate später war jegliche Rationalität vergessen. Wenn man sich heute das Protokoll der Sitzung ansieht, auf der die Minister beschlossen haben, Jerusalem zu erobern, zeigt sich, dass nicht einer von ihnen die Frage gestellt hat: Warum ist das eigentlich in unserem Interesse? Das hätte man doch erwarten können. Doch diese Frage stellen sie nicht. Weil sie diese Sehnsucht in ihrem Herzen tragen: Sie wollen Jerusalem – und das wirkliche Jerusalem ist Ostjerusalem. Warum aber ist Ostjerusalem wirklicher? Warum ist das muslimische Minarett, das dort zu sehen ist, eigentlich ein Symbol des Zionismus geworden? Wir Israelis nennen es den „Davidsturm“, obwohl das mit David überhaupt nichts zu tun hat. Das alles spielt sich also im Bereich der Symbole ab. Unter diesen Umständen ist auch zu verstehen, warum Israel die Westbank nicht sofort zurückgegeben hat: Die Eroberung hat eine solche Euphorie hervorgerufen, die man verstehen kann, wenn man die Angst vor dem Krieg begreift. Beide Gefühle waren irrational, aber nicht zu beherrschen.

Die Probleme, die durch die Besetzung palästinensischen Gebiets ja erst entstanden, konnten auf die Dauer aber doch nicht ignoriert werden?

Interessant ist, in welch schmerzlichen Diskussionen die Israelis dennoch versucht haben, das Problem der Palästinenser zu lösen, das man damals noch vor allem als Flüchtlingsproblem begriff. Ein Ausdruck des eben angesprochenen Wahnsinns ist, dass etwa der damalige Ministerpräsident Levi Eschkol ernsthaft meinte, man könne die Palästinenser einfach im Irak ansiedeln. Seine Logik war: Wir haben 100.000 Juden aus dem Irak bei uns aufgenommen, da können die Iraker problemlos 200.000 Palästinenser bei sich aufnehmen.

TOM SEGEV wurde 1945 in Jerusalem geboren, seine Eltern waren 1935 aus Deutschland nach Palästina geflohen. Segev zählt zu den New Historians, die mit einer Neubewertung der Geschichte des Zionismus und des Landes Israel begonnen haben. Segev schreibt für die Tageszeitung Ha’aretz und hat mehrere Bücher verfasst. Sein neues Buch, „1967. Israels zweite Geburt“, war wochenlang in den israelischen Bestsellerlisten, die deutsche Übersetzung ist eben im Siedler Verlag erschienen. Der Autor wird am 11. Juni im Jüdischen Museum Berlin und am 12. im Jüdischen Museum in München aus diesem Buch lesen.

Hat Israels Regierung damals einfach die Chance verpasst, Frieden zu schließen?

Ich glaube nicht, dass sie es versäumt haben, Frieden zu schließen. Sie haben versäumt, das Problem der palästinensischen Flüchtlinge zu lösen. Es gab den Vorschlag, die Flüchtlinge, die seit 19 Jahren in Gaza lebten, in die Westbank umzusiedeln. Das wäre kein dramatischer Transfer gewesen. Doch dann traten sofort die Nationalisten auf den Plan – Begin, Alon und auch Dayan – und sagten: Die Westbank muss von Juden besiedelt werden. Das Resultat war, dass nichts geschah. Und so leben wir heute noch immer am siebten Tag des Sechstagekrieges.

Wurde damals von israelischer Seite überhaupt mit den Palästinensern selbst verhandelt?

Es gab zwar Gespräche mit den Palästinensern, die haben aber nicht weit geführt. Unter anderem weil sie selbst uneins waren. Sie hatten zudem Angst, dass sie heute mit uns einen Vertrag machen und morgen, nach unserem Rückzug, die Jordanier wiederkommen. Zentrales Problem aber war immer wieder Jerusalem, dafür haben wir bis heute keine Lösung gefunden. Außerdem hat dann die Siedlungspolitik angefangen – die Weiterführung des ursprünglichen zionistischen Drangs, zu besiedeln, was man besiedeln kann.

Ist der 40. Jahrestag für die Israelis ein Anlass, über die historischen Gründe der aktuellen Probleme nachzudenken?

In Israel ist sich heute jeder darüber klar, dass wir immer noch im Jahr 1967 leben. Besonders ältere Menschen sprechen über die Frage, was wir mit den besetzten Gebieten anfangen wollen, als sei noch Juni 1967. Sehr schnell hat aber auch schon damals die Diskussion begonnen, die wir heute noch führen: Alle Möglichkeiten liegen seitdem auf dem Tisch und sind diskutiert worden. Es gibt immer mehr Israelis, die 1967 nicht mehr als Jahr der Erlösung betrachten, sondern als Jahr, das die Existenz Israels zumindest nicht weniger problematisch gemacht hat.