Geradezu hingejazzt

taz-Kulturredakteur Harald Fricke ist tot

VON BRIGITTE WERNEBURG

So fiel es nur ihm ein, zu fragen. Ob die Formel „mit den Sinnen denken und mit dem Geist fühlen“ nicht eher auf ein „ayurvedisches Kochwochenende“ hindeutete als auf die 52. Kunstbiennale von Venedig? Leichterdings entlarvte Harald Fricke die Trendbeflissenheit des Mottos, mit dem das Kunstereignis im März auf einer Pressekonferenz in Berlin beworben wurde – er spiegelte es einfach direkt am gemeinen Alltagstrend. Es war seine große Stärke, die Phänomene direkt anzusteuern. Harald Fricke spielte nie unnötig über Bande, wie es Großjournalisten so lieben. Mit artistischem Minimalismus gab er der Kugel in einer kleinen Karambolage genau den Drall, den es braucht, sie punktgenau zu versenken.

Es schmerzt, dass Harald Fricke den ganzheitlichen Wahrnehmungstrip nach Venedig nicht mehr unternehmen konnte. Sein Bericht wäre eine Wellnesskur der ganz anderen Art gewesen. Dank der fast kommentarlosen Genauigkeit seiner Beobachtungen mit ihren wenigen, trockenen, kritischen Anmerkungen, hätte er sich von der pompösen Menüfolge der venezianischen Art Cuisine nicht täuschen lassen und jederzeit festgestellt, ob die „visuellen, politischen oder überhaupt intellektuellen Belange der Kunst“ als ihre doch wesentlichen Bestandteile überhaupt noch vorkommen.

Es schmerzt, ihn nicht mehr mit Händen und Füßen in die Redaktionsräume hereinrudern zu sehen. Den Hipster mit den Hush Puppies und dem schrägem Gang, als den ich ihn kennengelernt hatte vor rund fünfzehn Jahren. Ich weiß noch, wie mir angekündigt wurde, dass Harald im Anmarsch sei, und wie ich vollkommen fasziniert einem gut aussehenden, langen, schlaksigen Typ entgegenstarrte, der nicht einfach auf mich zu kam, sondern eben auf mich zuzurudern schien. Ich kannte Berlin nicht und wollte dennoch den Kunstredakteur vertreten. Harald begegnete mir mit äußerster Liebenswürdigkeit und führte mich überaus großzügig in die Berliner Kunst- und Clubszene ein. Das war nicht selbstverständlich. Denn er hätte die Kunst in jedem Fall bestens vertreten. Allerdings schrieb er über Musik nicht minder brillant als über Kunst oder Film. Das bringt dann oft mehr Probleme als Ehre. Doch schon wenige Monate später wurde er der Kunstredakteur der taz, bis die Redaktion seinen vielfältigen Begabungen mit einer eigens für ihn geschaffenen Autorenstelle Rechnung trug. Zuletzt begeisterte er als einfallsreicher Ressortleiter von unschätzbarem Erfahrungsreichtum, der den nötigen Überblick mit der nicht weniger notwenigen Spontaneität verband, das Ruder noch einmal herumzureißen, um ad hoc neu zu planen.

Diejenigen seiner Texte, die ich am meisten bewundere, handeln von Musik. Wie seine Reportage über Brian Wilsons „Smile“-Konzert 2004 in Frankfurt: „Seine Songs, die er in knapp fünfundvierzig Jahren geschrieben hat, sind eine unentwegte Abfolge von Glück, das sich im Sekundentakt aufschichtet, zu einem Wellenkamm formt und wieder zerfließt. Surfmusik von einem, der mehr Zeit am Klavier als auf dem Meer verbracht hat.“ Ja, ich würde sogar sagen, alle seine Texte handeln von Musik. Einfach weil sie mit einem so enormen Gespür für Rhythmus und Satzmelodie geschrieben und im schönsten, keineswegs seltenen Fall geradezu hingejazzt sind.

Klar, dass er selbst einmal eine Band hatte, Billie and the Deep, in den 80er Jahren. Dass seine Biografie ein einziges Crossover von Kunst, Musik, Club- und Subkultur, Mode und einer soliden akademischen Auseinandersetzung mit Philosophie und Literaturgeschichte war, ist seinen Texten anzumerken. Harald Fricke dachte Kultur nicht in den Kategorien des klassischen Feuilletons, sondern in denen der Popkultur; einer Popkultur allerdings, deren aktuelle Erscheinungsweise er immer mit einer profunden Kenntnis ihrer Geschichte und Alltagspraxis verband. Popkultur war für Harald Fricke nicht einfach hipper Diskurs, sondern immer ökonomische und materielle Realität, und kaum einer wusste ihre Produkte so differenziert zu erinnern und benennen wie er. Das hing ganz stark damit zusammen, dass er den Ehrgeiz, sich in seinen Texten selbst zu bespiegeln, nicht kannte. Er sah sich immer an erster Stelle als Berichterstatter, als Journalist – und war gerade deshalb jederzeit ein überragender Autor.

In der Clubkultur, die sich nach dem Mauerfall in Berlin entwickelte und auf deren Dancefloor Musik und Kunst radikaler als bislang zueinander fanden, war er von Anfang an, auch als DJ, zu Hause. Vor und hinter den Tresen dieser Szene entdeckte er Künstler, aber auch Autoren, die heute – die einen wie die anderen – bekannte Namen sind. Hier beobachtete er, wie mehr und mehr junge Künstler und Künstlerinnen aus aller Welt in die neue Hauptstadt strömten und Berlin zum Zentrallabor der zeitgenössischen Kunst wurde. Auf Augenhöhe mit den „Children of Berlin“, als die sie Jahre später in New York gehandelt wurden, begleitete er als Kunstredakteur der taz ihren Aufbruch journalistisch. Andere überregionale Zeitungen, die ihr Feuilleton für maßgeblich halten, wussten da noch lange Zeit nicht, was sie verpasst hatten. Als ihre Redakteure endlich nach Berlin kamen, um kurz darauf in Hamburg Vorträge über die Entwicklung des Clubstyles von Berlin-Mitte zu halten, stand Harald inmitten dieser nachträglich reklamierten Kompetenz plötzlich als merkwürdig erratische Erscheinung da.

Dieser Umstand, so schien es mir, verblüffte ihn eher, als dass er ihn kränkte, zumal ihm dieses Die-Entscheider-sind-wir-Netzwerken grundsätzlich fremd bleiben musste. Nicht nur, weil er schon viel zu lange in der Originalszene zu Hause war und im Alleingang längst berichtet hatte, wo die Musik spielt; welche Galerien, welche Künstler es wert waren, dass man ihre Entwicklung verfolgte, und an welchen Orten man beobachten konnte, wie sich zeitgenössische künstlerische Ansätze auf interessante Weise und internationalem Niveau mischten. Es blieb ihm auch deshalb fremd, weil er auf Abstand bedacht war; unkorrumpierbar und untauglich dafür, als Kumpel gesehen und eingemeindet zu werden. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er kein Kumpel war. Denn wann passiert es einer Journalistin oder Künstlerin schon, dass der professionelle Auftritt der männlichen Kollegen nicht grundsätzlich mehr Beachtung erfährt? Harald war diese männerbündische Voreingenommenheit nicht nur fremd, er verabscheute sie geradezu. Er blieb zu Männern wie Frauen in gleicher, deutlicher Distanz – gerade deshalb hat er so viel für die Wahrnehmung von Künstlerinnen getan.

Natürlich hatte sein Wunsch nach Distanz auch zwanghafte Aspekte: Den wichtigsten Menschen in seinem Leben, seine große Liebe, mit der er seit Anfang zwanzig zusammen war, stellte er als seine „Bekannte“ vor; die Redaktionsräume betrat er stets wort- und grußlos, und dass er nur mit Mühe zu einem Hallo zu bewegen war, empfand ich immer als Affront. Gleichzeitig hatte diese Unhöflichkeit ihren ganz eigenen Charme, denn sie maskierte vor allem seine Großzügigkeit, mit der er über die Macken der anderen, mehr noch als über die eigenen, hinwegsah.

Deshalb zeichnet auch ein verhaltener Gestus seinen Stil aus; eine Lässigkeit auch dort, wo man auf eine deutlichere Stellungnahme gehofft hätte. Doch liest man genau, erkennt man schnell, dass es die schräge Eleganz seines Stils ist, die verdeckt, wie vernichtend sein Urteil tatsächlich war: „Eberhard Havekost malt für ‚Snow Lounge‘ zylindrisch gebogene Gesichter von jugendlichen Skifahrern, deren melancholisch kühler Blick die Entenhaftigkeit der Darstellung kaum kaschiert.“ Wer immer erst einmal vor einem Havekost im Original steht und nicht blind ist, der kann vom Einfall mit der Entenhaftigkeit nur entzückt sein. Und natürlich hat Harald Partei ergriffen. Für Hans Haacke im Streit um dessen Reichstagsprojekt. Seine Absegnung durch den Bundestag schrieb er ausgerechnet der Brandrede zu, die Volker Kauder gegen Haacke und die Widmung „Der Bevölkerung“ hielt: „Als Kauder auch noch davon zu reden anfing, dass ‚wir Deutschen‘ endlich wie Franzosen und Engländer zu ‚unserer Nation‘ stehen sollten, war klar: Das Ding wird gebaut.“

Die Begeisterung und vor allem die Zuneigung, die man für ihn empfand, ließ er nur dosiert an sich heran. Also blieb, um ihm nicht zu nahe zu treten, Verehrung – und ein enormer Respekt. Wahrscheinlich hat er die Umarmung, die Anerkennung, die in der Eingemeindung liegt, manchmal doch vermisst; auch wenn er wusste, wie wichtig er für uns, die Zeitung und für die Kunst war – wie unersetzlich. Er hat heroisch gegen seine Krebserkrankung gekämpft. Am Mittwoch ist Harald Fricke gestorben.