Ersatzteillager Mensch

Das Krankenhaus ist heutzutage oftmals der Beginn einer umfassenden Verwertungskette. Für Körperteile wie Knochen oder Hornhäute verstorbener Patienten besteht in der Medizin ein großer Bedarf. Auch lukrative Geschäfte werden damit gemacht

Das Ausgangsmaterial Mensch stammt aus einer Vielzahl von Ländern, die Hälfte kommt aus Osteuropa

VON CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Knochen, Herzklappen, Hautstücke, Gefäße, Sehnen oder Hirnhäute – die Nachfrage nach Ersatzteilen menschlichen Ursprungs ist groß. 5.000 Menschen allein in Deutschland würden erblinden, wenn sie nicht eine Augenhornhaut übertragen bekämen. Längst schon ist das Gewebe eines Verstorbenen zur begehrten Ware in einem weltweiten Geschäft geworden.

In Deutschland gibt es jedoch bislang nur ein privates Unternehmen, das Gewebe kommerziell verarbeitet: Tutogen. Der Hauptsitz befindet sich in Alachua, in Florida. Nach einem zertifizierten Verfahren verarbeitet die Firma Tutogen Knochen und Sehnen aus Leichen oder auch kugelförmige Köpfe von Oberschenkelknochen, die bei Operationen anfallen.

Aus den Knochen werden Chips oder Dübel gefräst. Bei Knochenoperationen, bei denen Nägel oder Schrauben nicht wieder entfernt werden können, sollten diese aus menschlichem Gewebe bestehen. Die menschlichen Dübel werden nicht abgestoßen, wachsen mit und können ein Leben lang im Körper bleiben. Jedoch sind sie nicht gerade preiswert. So gibt es in der Internetapotheke DocMorris europaweit einen „Spongiosa-Dübel, 10 mm, Länge 16–20 mm“ für 634,58 Euro zu kaufen.

Die Geschäfte von Tutogen laufen gut. Das Unternehmen verkauft seine Waren in etwa 40 Ländern. Der Umsatz lag im vergangenen Jahr bei 38 Millionen Dollar – im Vergleich zu sieben Millionen Dollar im Jahr 2005.

Die deutsche Tutogen-Niederlassung in Neunkirchen bei Bamberg verarbeitet jährlich 500 bis 1.000 Spender, täglich verkauft das Unternehmen mehr als 50 Pakete mit Implantaten. Tutogen verfügt über eine Herstellungserlaubnis und Zulassung nach deutschem Arzneimittelgesetz und somit über die Genehmigung, menschliches Gewebe zu verarbeiten und an Dritte weiterzugeben.

Das Ausgangsmaterial Mensch stammt aus einer Vielzahl von Ländern, die Hälfte kommt aus Osteuropa. „Die Menschen sind dort materialistischer eingestellt“, sagt Karl Koschatzky, Geschäftsführer von Tutogen. Offen bleibt, was er damit meint. Doch dass in den osteuropäischen Staaten relativ großzügig mit dem Rohstoff Mensch umgegangen wird, könnte an der dort vorwiegend angewandten Widerspruchslösung liegen: Falls ein Mensch nicht zu Lebzeiten bekannt gibt, dass er eine Gewebeentnahme ablehnt, wird dies als Zustimmung gewertet. Nicht berücksichtigt wird hierbei von staatlicher Seite, dass nur wenige Menschen die Gesetzeslage überhaupt kennen.

Nach deutschem Recht muss – so wie bei Organentnahmen auch – der Verstorbene bereits zu Lebzeiten einer Gewebeentnahme zugestimmt haben. Liegt diese nicht vor, können die nächsten Angehörigen entsprechend dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen einer Entnahme zustimmen.

Die Kommerzialisierung der Branche vollzog sich in Europa erst in den zurückliegenden zehn Jahren. Anfänglich verfügten größere Kliniken über hauseigene Vorräte, die auch Ärzten anderer Krankenhäuser unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurden. Kosten fielen kaum an, da sie nicht berechnet wurden. Im Hintergrund stand die Auffassung: Das Personal kann das gleich während seiner Arbeitszeit mit erledigen, und eine Gefriertruhe findet sich immer.

So entwickelten sich in Deutschland hunderte kleiner Gewebebanken, deren genaue Anzahl unbekannt ist. Es gab bisher keine einheitlichen Qualitätsstandards. Bis vor kurzem benötigten Krankenhäuser auch keine Genehmigung, wenn sie Gewebe aus dem nichteuropäischen Ausland importierten. Erst seit September 2006 müssen Kliniken nach dem Arzneimittelrecht eine Einfuhrerlaubnis beantragen.

Obwohl es verboten ist, menschliche Körperteile zu verkaufen – nur „Aufwandsentschädigungen“ sind erlaubt –, kam es zu einer Kommerzialisierung. Im niederländischen Leiden entstand die Einrichtung Bio Implant Services (BIS), ein Subunternehmen der Eurotransplant, die in Teilen Europas die Vergabe von Organen regelt. Nun wollte BIS auch als Makler für Gewebe tätig werden: Es wurden Gebühren erhoben für eine erfolgreiche Vermittlung.

Außerdem entstanden sogenannte gemeinnützige Gewebebanken – einige von Uni-Kliniken betrieben, andere als Tochterfirmen von US-Institutionen, die den Kliniken „Aufwandsentschädigungen“ für die Entnahmen zahlen, mit dem so erlangten Material verschiedene Produkte herstellen und sie dann wieder an Krankenhäuser verkaufen. Auch in Krankenhäusern und Gewebebanken setzte sich damit eine kaufmännische Art des Denkens durch.

Mittlerweile hängt der Preis für ein Transplantat vom Gehalt des Entnahmepersonals und dem des Fahrers, den Kosten mikrobieller Tests und anderem ab. Das Ganze ist bundesweit vereinheitlicht, und inzwischen ist menschliches Gewebe so teuer, dass es oft nicht bezahlt und verwendet werden kann.

Zudem führte ein kürzlich vom Bundestag beschlossenes Gesetz zu heftigen Diskussionen. Zukünftig unterliegen industriell bearbeitete Gewebe einer Zulassungspflicht nach dem Arzneimittelrecht. Auf diese Weise will die Bundesregierung die Vorgaben einer EU-Geweberichtlinie vom März 2006 umsetzen und das bisherige Transplantationsgesetz ergänzen. Ziel ist es, Qualität und Sicherheit bei der Transplantation zu erhöhen. Gelten Gewebezubereitungen als Arzneimittel, so zieht dies eine Vielzahl rechtlicher Konsequenzen nach sich: Jede Klinik, die Gewebe entnimmt, aufbewahrt und abgibt, benötigt künftig eine Herstellungserlaubnis wie ein Arzneimittelhersteller und – im Falle der Abgabe an Dritte – eine Zulassungserlaubnis. Wer von nun an Knochendübel produzieren will, muss eine „Herstellungserlaubnis“ besitzen, die teure Reinraumbedingungen vorschreibt. Zudem müssen die Produkte vom Paul-Ehrlich-Institut geprüft und zugelassen werden, bevor sie an Dritte weitergegeben werden dürfen, was ebenfalls mit hohen Kosten und viel bürokratischem Aufwand verbunden ist. Eine weitere Konsequenz: Es gilt nicht das im Transplantationsgesetz festgeschriebene Handelsverbot. Damit werden Gewebe unter Umständen zu einem kommerziellen Gut.

Die neue Regelung gilt nur für industriell bearbeitetes Gewebe, beispielsweise die im Labor gezüchteten Zellen des Tissue Engineering. Andere Gewebe, die nur entnommen und konserviert werden müssen, wie Herzklappen oder Gefäße, fallen nicht unter diese strengen Regelungen. Das Handelsverbot wird somit für sie auch weiterhin gelten.

Und diese Verbindlichkeit ist von hoher Bedeutung. Denn auf kommerziellen Märkten stehen sich Wettbewerber gegenüber, die mit ihren Produkten nicht immer „treuhänderisch“ umgehen. So war Tutogen in den USA in Fälschungsskandale von Spenderunternehmen verwickelt. Möglicherweise infizierte sich eine Patientin durch ein Tutogen-Präparat an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Und Grenzbeamte an der tschechischen Grenze fanden im Kofferraum eines Pkws Knochen unbekannter Herkunft – und daneben unausgefüllte Tutogen-Formulare.