Berliner Ökonomie
: Es gibt nur Natur

Die Kunst der Verschwindens und das Auftauchen magischer Räume: Zum neuesten Stand der Mimese-Forschung

Wenn man neben einem jungen Mann geht oder steht, der in mehr oder weniger gut kombinierte „Streetwear“ gekleidet ist, kann man sich fragen: Ist seine „Mode“ zum Verschwinden oder zum Auffallen gedacht?

Als ich einmal mit einem Pferd unterwegs war, das eine Satteltasche mit meinen Habseligkeiten trug, war meine Kleidung (Jeans, Parka, Roots-Schuhe) nach rein praktischen Gesichtspunkten für das Unterwegssein gewählt. Die Art und Weise, wie die Leute mich wahrnahmen und unterwegs ansprachen, brachte mich jedoch irgendwann darauf: „Das bin ich doch gar nicht, für den die mich halten.“ Dieser Gedanke forcierte meine unglückliche „Depersonalisierung“ noch, die schon durch den Wechsel von einem sesshaften Studenten zu einem Wanderknecht hervorgerufen worden war. Umgekehrt erzählte mir eine Freundin neulich: In der Türkei wurde sie für eine Türkin gehalten, in Schweden für eine Schwedin, in Italien für eine Italienerin und in Irland für eine Irin. Jetzt wolle sie dieses Phänomen einmal in Afrika testen. In Istanbul hatte sich ihr der Gedanke aufgedrängt: „Ich bin ein Chamäleon.“

Am Beispiel eines jüdischen Emigranten der zweiten Generation, der sich in jede US-Szene (auch in die schwarze) bis zur Ununterscheidbarkeit integrierte, wurde diese „Fähigkeit“ bereits von Woody Allen in seinem wunderbaren Film „Zelig“ ausgelotet. Hierbei ging es um die Pathologie der Anpassung, die man unter Biologen auch Mimese bzw. Mimikry nennt. In Berlin wird darüber gerade viel geforscht – nicht nur bei den Naturwissenschaftlern, sondern auch am Zentralinstitut für Literatur- und Kulturforschung.

Inspirierend wirkt dabei das gerade im Kreuzberger Verlag Brinkmann & Bose von Peter Geble und Peter Berz herausgegebene Buch des französischen Naturforschers Roger Caillois, der einst den Surrealisten nahestand. Er hat die Mimese in seinem Buch „Méduse & Cie“ von ihrer darwinistischen Verklammerung mit der „Nützlichkeit“ gelöst – und sie (wieder) als ästhetische Praxis begriffen: So versteht er zum Beispiel die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als „magische Praktiken“, die abschrecken und Furcht erregen sollen – genauso wie die „Masken“ der so genannten Primitiven. Und die Mimese überhaupt als tierisches Pendant zur menschlichen Mode. „Es gibt nur eine Natur“ – soll heißen: „dass die Formen und Verhaltensweisen der Insekten genauso wie bestimmte ästhetische Vorlieben und Faszinierbarkeiten der Menschen sich auf eine gemeinsame Basis zurückführen lassen: auf den Formenvorrat einer bildnerischen Natur, deren spielerisch zweckfreies Wirken sich im Naturreich ebenso niederschlägt wie in der vom Naturzwang freigesetzten Sphäre menschlicher Imagination“.

Dies schreibt die FAZ in einer Rezension des Caillois-Buches. Demnach können wir die Mode/Mimese, ebenso wie die Integration und das Gegenteil davon, als eine „magische Praktik“ begreifen. Ich trage etwa – seitdem die Männermode immer strampelhosenartiger wurde – Anzüge. Genau genommen ist das keine Mimese (eine Angleichung an den Hintergrund bzw. die Umgebung, um unsichtbar zu werden), sondern eher Mimikry: So wie etwa eine ungiftige Schlange eine giftige im Aussehen nachahmt! Die französische Feministin Luce Irigaray riet den Frauen dagegen zur „Mimese: Es geht darum, die Rolle freiwillig zu übernehmen. Was schon heißt, eine Subordination umzukehren in Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu beginnen, jene zu vereiteln.“ Umgekehrt hat jüngst der US-Schriftsteller Tom Wolfe – ein großer Modeexperte – in seinem Roman „Ich bin Charlotte Simmons“ die Mimese als grausame Initiation eines Highschoolmädchens ins Collegemilieu beschrieben.

Bei all diesen Fällen geht es, folgt man Caillois, um „eine Störung der räumlichen Wahrnehmung“, die sowohl bestimmte Insekten als auch Schizophrene heimsuche. Beide wissen „im starken Wortsinn – nicht mehr, wohin mit sich“. An anderer Stelle schreibt er: „Der Raum erscheint diesen enteigneten Wesen als ein alles verschlingender Wille“. In Berlin gibt es gleich eine ganze Reihe von „Räumen“, deren „Wille“ derart historisch aufgeladen ist, dass sie etwas allzu Zwingendes gewonnen haben. So hat Alexander Kluge beim großen Feuerwerk, das vor der Wende von André Heller vor dem Reichstag inszeniert wurde, herausbekommen, dass die Feuerwehr dabei genauso Aufstellung nahm wie fünfzig Jahre zuvor schon bei dem „von oben“ inszenierten Reichstagsbrand, während man die Polizeireiterstaffel zur Sicherheit am Landwehrkanal postiert hatte. Auf Befragen meinten sie: „Wir sehen zu, dass keine Leichen angeschwommen kommen!“ Mit Kluge könnte man hierbei von einer „Magie des Raumes“ sprechen – insofern die Menschen, die darin leben bzw. arbeiten, sich nur einbilden, sie tun, was ihnen möglich ist, in Wirklichkeit werden sie eher durch die Geschichte des Ortes selbst zu diesem oder jenem gezwungen. HELMUT HÖGE