Der Patriarch vom Hansaplatz

Er wollte ein Revolutionär sein und erfand das moderne Kindertheater: Heute wird Volker Ludwig, der Kopf des Grips-Theaters, 70 Jahre alt. Bejubelt wurde seine Arbeit – und geschmäht, auch von frustrierten 68er-Kindern. Jetzt sucht er einen Nachfolger

„Linie 1“ war ein riesiger Erfolg – und zugleich eine Art Fluch, sagt Ludwig

VON KIRSTEN KÜPPERS

Berlins bestbesuchtes Theater steht in einem Hochhausviertel, das auch schon ziemlich alt ist. Der Beton ist über die Jahre nicht schöner geworden, der Imbiss ist geschlossen, und an einem stillen Wochentag im Sommer erinnert nur das Brummen der Rolltreppe am U-Bahnhof Hansaplatz daran, dass hier einmal so etwas wie Zukunft begonnen hat.

1974 war das. Eine Aldi-Filiale sollte in den Flachbau gegenüber dem U-Bahn-Eingang einziehen, aber dann kriegten es Volker Ludwig und die anderen mit Hilfe einiger linker Sozialdemokraten vom Ortsverein Tiergarten irgendwie hin, dass das Grips-Theater den Mietvertrag bekam. Vorher hatten sie ein paar Jahre an wechselnden Orten Kindertheater gemacht, nun unterschrieben sie auf einmal einen 10-Jahres-Vertrag – und da wusste Ludwig schon, dass er sein Leben erst mal so schnell nicht würde trennen können von diesem Theater.

Heute wird Volker Ludwig 70, und er ist immer noch der Chef des Grips-Theaters. Man kann wohl sagen: ein guter Chef. Denn nach fast 40 Jahren strömen die Massen weiterhin in seinen Betrieb. Die Schulklassen machen morgens die Vorstellungen voll, die Touristen laufen abends in die „Linie 1“. Es gibt kaum einen internationalen Theaterpreis, den das Grips-Theater nicht gewonnen hat. Auf der ganzen Welt werden Ludwigs Stücke gespielt. Und das ist doch etwas, auf das man stolz sein kann mit 70 Jahren. Indien! Hongkong! Ecuador!

Beim Interviewtermin sitzt Ludwig tief in den Stuhl gedrückt in seinem Büro am Hansaplatz, eben ist er von einem Seminar in Istanbul zurück, wo die türkischen Theaterpädagogen wieder einmal nicht genug bekommen konnten von seinen Vorträgen, schließlich gilt Ludwig als Erfinder des modernen Kindertheaters. Trotzdem sitzt er in seinem Büro – ein alter Chef mit langen grauen Haaren und dichtem Bart –, wirft die Hände nach oben und ruft, dass er das eigentlich gar nicht wollte: Theater machen für Kinder. Ludwig wollte politisches Kabarett spielen. Er wollte satirisch sein, böse, revolutionär und ironisch. „Ironie funktioniert nicht bei Kindern“, sagt Ludwig und es klingt wie ein Vorwurf.

Deswegen hat er anders angefangen. Es war Mitte der 60er-Jahre, die Studenten fingen an zu demonstrieren, und Volker Ludwig eröffnete das „Reichskabarett“, die „satirische Stimme der Studentenbewegung“, wie er es selbst nennt. Es lief ziemlich gut zuerst: Sie geißelten den Imperialismus, spielten ein Anti-Vietnam-Programm, ihre Freunde vom Dutschke-Flügel des SDS kamen und lachten. Und dass sie von der CDU als „Handlanger Moskaus“ beschimpft wurden, war nicht das Schlimmste, was einem damals passieren konnte.

Aber Ludwig wollte, wie gesagt, ein Revolutionär sein. Ihm gefiel nicht, dass sie ihr Kabarett nur vor Leuten spielten, die sowieso der gleichen Meinung waren – auch wenn das Publikum versuchte, möglichst sarkastisch zu jubeln, aufsässig zu klatschen, anarchistisch zu schunkeln. Die Sache mit den Kindern schien besser geeignet, auch das Proletariat zu erreichen. Die Kinder würden nach Hause gehen und ihren Eltern erzählen, was sie im Theater erlebt hatten. „Außerdem bildeten die Kinder damals selbst eine unterdrückte Klasse. Wir ergriffen für sie Partei“, erzählt Ludwig. Es war die Zeit, in der Restaurants noch nicht über Kinderstühle verfügten und Kinder beim Einkaufen zuletzt bedient wurden.

Im Mai 69 schrieb Volker Ludwig, der mit bürgerlichem Namen Eckart Hachfeld heißt, zusammen mit seinem Bruder Rainer das erste Kinderstück. Es hieß „Stokkerlok und Millipilli“. So hat es begonnen mit dem Grips, und aus moskautreuen Kommunisten wurden Beleuchter in einem Kindertheater.

Das Theater funktionierte seither als Kollektiv, Entscheidungen wurden in endlosen Vollversammlungen gemeinsam getroffen, nach den Vorstellungen verlasen radikale Sozialisten und K-Gruppen ihre Resolutionen. Aber nicht nur deswegen war das Grips etwas Neues. In Deutschland diesseits der Mauer hatte es zuvor kein eigenes Theater für Kinder gegeben. Zu Weihnachten waren Märchenstücke gezeigt worden – das war so ziemlich alles. Im Grips-Theater ging es stattdessen um Mütter mit Putzfimmel, Kinder, die nicht ins Bett wollten, und böse Hausmeister. Man wollte die Probleme des Publikums auf die Bühne bringen. Das gefiel den Kindern. Die Vorstellungen waren voll.

Links neben seiner Bürotür hat Volker Ludwig einen Apparat hängen, der die Vorstellung von unten aus dem Theatersaal überträgt. Zuvor hatte man nur das Plätschern leiser Musik als Hintergrundgeräusch gehört, aber jetzt ist das Stück zu Ende und aus dem Apparat knistert das Rufen vieler Kinder. „ZU–GA–BE!! ZU–GA–BE!!!“, brüllt eine ganze Schulklasse. Und während Ludwig sich am Bart kratzt und weitererzählt – er hat sich ein bisschen warm geredet über die Vergangenheit, über die wilden WGs, in denen er gewohnt hat, usw. –, denkt man, dass so ein Apparat wirklich eine gute Einrichtung ist fürs Selbstbewusstsein.

Vor zwei Jahren gab es dann noch einmal Ärger wegen der 68er-Vergangenheit des Grips-Theaters. Im Tagesspiegel war unter dem Pseudonym „Sophie Dannenberg“ eine Abrechnung mit dem Grips erschienen. Im Artikel wurde die ständige Auflehnung gegen Autoritäten in den Stücken beklagt, die „totale Mobilmachung gegen die Erwachsenen“. Die Utopie des Theaters sei „nicht nur gesellschaftsfeindlich, sondern lebensfeindlich“. Kurzum, das Grips sei eine Art kommunistische Kaderorganisation für Kinder, nach deren Besuch diese, wenn sie nicht eine Revolution in Lateinamerika anzettelten, zumindest doch ungezogener wieder herauskämen, als sie hereingelaufen seien.

Der Artikel klang überzogen und ziemlich durchgedreht. Offensichtlich wollte sich hier jemand abarbeiten an den eigenen Eltern und an 1968. Nun hatte es das Grips-Theater erwischt.

Volker Ludwig hat sich sehr aufgeregt über den Artikel. Er sagt, das Ganze sei schlimmer gewesen als in den 70er-Jahren. Damals hatte die Berliner CDU jahrelang versucht, die Gelder für das Grips zu streichen – mit dem Argument, dort würden Kinder kommunistisch indoktriniert und ihre Seelen zerstört. An manchen Schulen mussten Lehrer mit einem Eintrag in der Personalakte rechnen, wenn sie mit ihren Schülern das Grips-Theater besuchten. Das war schon keine einfache Zeit gewesen. „Aber da war es der politische Gegner!“, faucht Volker Ludwig, er wirkt immer noch fassungslos über den Dannenberg-Text.

Es gab viele Leserbriefe auf den Artikel, die meisten glühende Verteidigungsschriften für das Grips. Der interessanteste Brief kam von einem ehemaligen Grips-Stückeschreiber, der jetzt als Direktor des Botanischen Gartens auf Bali arbeitet. Er erklärte das Grips als Produkt seiner Zeit. Und damit liegt er wohl richtig. Die Ideen der 68er-Bewegung landeten in den Kinderläden, und was die Erwachsenen an Gesellschaftsveränderung nicht schafften, sollten die Kinder vollenden. Es sei nicht das Grips allein gewesen, das den Kindern diese Last aufdrückte, meinte der Briefeschreiber, sondern eine ganze Generation von Eltern, Erziehern, Kinderladen-Funktionären. „Es war die Zeit, in der man Gefahr lief, aus der WG gewiesen zu werden, wenn man die Kinder mal anschnauzte – weil man es müde war, mit Spaghetti beworfen zu werden.“

Die Leistung des Grips ist es gewesen, dass es als erstes Theater überhaupt Kindern realistische Mutmach-Geschichten erzählt hat, jenseits von kitschigen rosablauen Wolkenwelten. „Es war der große Entwurf des Grips, dass es Kinder, die mit Bäh-bäh und Dada angesprochen wurden, als ernst zu nehmende Individuen anredete“, schreibt auch der Mann aus Bali. Die vom Grips gesetzten Standards, Theater für Kinder professionell zu machen, sind heute Norm. Auch deswegen hat das Haus bekannte Schauspieler wie Heinz Hoenig oder Axel Prahl hervorgebracht.

Volker Ludwig hat eine seltsame Art, sich selbst an- und auszuknipsen. Er ist ein netter, väterlicher Typ, aber wenn man lange an einem Thema hängt, kommt plötzlich der Moment des Umschaltens und sein Blick wird leer und kalt. Wahrscheinlich kommt das von den vielen Interviews, die Ludwig in seinem Leben schon gegeben hat. Man kann sich das vorstellen: Wer alles wieder und wieder erzählen muss, will schnell fertig werden.

Die Stücke wurden über die Jahre psychologischer, berichtet Ludwig also weiter, weniger eindimensional, auch die Erwachsenen sollten mitlachen können, wenn sie ihre Kinder ins Theater begleiteten. Und dann kam 1986 die „Linie 1“, das Musical, das das Grips in der ganzen Welt zur Berlin-Marke gemacht hat. Es war ein Durchbruch, der gänzlich unerwartet kam. Und gleichzeitig sei das Stück eine Art Fluch, gibt Ludwig zu. Seither wollen alle Touristen immer nur die „Linie 1“ sehen. Er schüttelt den Kopf, dass die Haare fliegen. Ludwig ist keiner, der sich gerne festnageln lässt. Nicht von Leuten, die aus großen Reisebussen steigen, und auch nicht vom Erfolg.

Neuerdings steckt das Grips-Theater ja auch wieder in einer finanziellen Krise. Das Budget ist so knapp kalkuliert, dass die Vorstellungen immer über 90 Prozent ausverkauft sein müssen, damit sich das Ganze überhaupt lohnt. Das hat bislang geklappt, aber im letzten Jahr blieben auf einmal viele Schulklassen weg. „Wegen dem Pisa-Schock“, meint Ludwig. Es dürfe kein Unterricht mehr ausfallen zugunsten eines Theaterbesuchs, sagen die Lehrer und trauen sich nicht mehr zu kommen. Ludwig schnaubt. Man hat das Gefühl, dass auch das nur ein neuer Kampf ist, den er schon irgendwie für sich entscheiden wird. Genauso wie das Nachfolger-Problem. Es ist nicht einfach, jemanden zu finden, der ein Kollektiv leiten will. Ein großer, grauer Patriarch lässt sich auch nicht leicht ersetzen. Ludwig ist auf der Suche.

Aber jetzt wird erst einmal Geburtstag gefeiert. Das Grips-Ensemble organisiert ihm zu Ehren am 16. Juni eine große Veranstaltung in der Akademie der Künste. Es wird Theatereinlagen geben, Musik, Sekt und Blumen. Ludwig hätte den Tag lieber ruhig in seinem Haus in der Uckermark verbracht, brummt er. Man steht auf, isst ein bisschen Kuchen und keiner erwartet eine Rede, wahrscheinlich so etwas in der Art. Ludwig guckt aus dem Fenster, sein Blick ist schläfrig. Vielleicht haben ihn die vielen Kämpfe müde gemacht.

Volker Ludwig hat zwei Söhne. Der eine ist zwölf. Er hat ihn von einer jungen Frau, die einmal in sein Büro geschneit kam, um ein Interview zu führen, und Ludwig fand sie schon toll, aber sehr jung. Fünf Jahre später kam die junge Frau wieder und seither leben sie zusammen.

Der andere Sohn, den Volker Ludwig hat, ist vierzig und arbeitet als Masseur in Friedenau. Bei der Frage, ob er mit ihm mal über den Sophie-Dannenberg-Streit gesprochen hätte – schließlich ist er ja auch ein Kind von Eltern der 68er-Generation –, knipst Volker Ludwig sein Lächeln wieder aus und sagt: „Über so was reden wir gar nicht.“