Ikone des Computerzeitalters

In der Grauzone ziviler und militärischer Anwendung: Im November 1945 präsentierte das „Life“-Magazine Vannevar Bushs Vision des World Wide Web – eine universelle Wissensmaschine namens Memex, Abkürzung für Memory Extender, die zum Medienereignis wurde und Geschichte machen sollte

VON ANSGAR WARNER

Das amerikanische Life-Magazine präsentierte seinen Lesern im November 1945 die Abbildung einer futuristischen Apparatur, deren Aussehen an eine Jahrmarktsattraktion erinnerte. Die hybride Mischung aus klobigem Mikrofilm-Lesegerät und archaischem Personal Computer gilt mittlerweile als zentrale Ikone des anbrechenden Informationszeitalters: Die Öffentlichkeit erlebte die Epiphanie eines neuen Mediums, das allerdings erst mehr als dreißig Jahre später seine Inkarnation als gebrauchsfähige Hardware erleben sollte.

Die Abbildung in Life illustrierte einen Essay des Ingenieurs Vannevar Bush, der unter dem Titel „As we may think“ bereits kurz zuvor in der Zeitschrift Atlantic Monthly erschienen war. Bush taufte seine universelle Wissensmaschine „Memex“, eine Abkürzung für „Memory Extender“. Im populären Life-Magazine wurde „Memex“ zum nationalen Medienereignis und machte Geschichte. Den Historiografen von Silicon Valley gilt „As we may think“ mittlerweile als „Magna Charta“ von Hypertext und World Wide Web.

„Wo sich auch andere angeboten hätten, stellt man einen Ingenieur an den Ursprung“, kritisiert dagegen der Berliner Literaturwissenschaftler Stephan Porombka in seiner „Kritik eines digitalen Mythos“. Also alles nur eine der „Rhetorik des Beginns“ verpflichtete Konstruktion? Mit Bush als Propheten besitzt die Gemeinde der Informatik-Enthusiasten auf jeden Fall einen äußerst ambivalenten Gründungsvater. In den Massenmedien war der wortkarge Pfeifenraucher bereits während des Krieges als ebenso kauziges wie geheimnisvolles Genie inszeniert worden. Collier’s Weekly präsentierte ihn Anfang 1942 vieldeutig als „the man who may win or lose the war“.

Was Bush genau machte, wurde erst nach dem Krieg bekannt: Er war Leiter des geheimen „Manhattan Project“ zum Bau der ersten Atombombe. Verschwörungstheoretiker nennen ihn nicht zu Unrecht in einem Atemzug mit dem „Smoking Man“ aus der Fernsehserie „X- Files“: Bush könne sozusagen als Erfinder des militärisch-industriell-akademischen Komplexes gelten, schreibt Bush-Biograf Pascal Zachary. Gleich nach der Katastrophe von Pearl Harbour hatte er im Auftrag von Präsident Roosevelt begonnen, natur- und ingenieurwissenschaftliche Fakultäten, das Militär und Industrieunternehmen miteinander zu vernetzen. Doch der Ingenieur im Kriegseinsatz war nicht nur ein guter Netzwerker. Er interessierte sich früh auch für den effektiven Umgang mit dem modernen „information overflow“.

Viele wichtige Erfindungen, so schreibt Bush in seinem Essay, würden oft für lange Zeit nicht weiterentwickelt oder sogar mehrfach gemacht, weil sie in dem Wust an Informationen niemand mehr wahrnehme. In „As we may think“ träumte Bush von einer Technologie, die Informationen in jeder Form durch so genannte „associative trails“ verknüpfen und speichern konnte. Nichts sollte im Meer des Wissens mehr verloren gehen – die Hyperlinks des Internetzeitalters lassen grüßen. „The process of tying two items together is the important thing“, postulierte Bush. Tatsächlich war es das erste Mal, dass Datenverarbeitung und assoziative Kreativität gedanklich miteinander verbunden wurden. Zur Darstellung der Informationen stellte sich Bush eine Art Sichtschirm vor, der mit zahlreichen Hebeln und Knöpfen gesteuert wurde.

Insofern ist es kein Wunder, dass der Memex-Mythos auch Bushs zentrale Rolle bei der Entstehung der heute üblichen digitalen „Arbeitsumgebungen“ hervorhebt. Die Computerpioniere der nächsten Generation, insbesondere Doug Engelbart und Ted Nelson, haben jedenfalls später behauptet, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren durch das Prinzip der „Memex“-Maschine inspiriert gewesen zu sein.

Vannevar Bush dachte jedoch in völlig anderen Dimensionen als die idealistische „Hacker“-Generation, die sich nach und nach von den Großrechnerwelten des militärisch-industriellen Komplexes emanzipierte. Bereits „As we may think“ bewegt sich merklich in einer Grauzone ziviler und militärischer Anwendung. Bush demonstriert in seinem Essay die Leistungsfähigkeit von „Memex“ am Beispiel einer historisch-technischen Recherche zum Thema Bogenschießen. Was zunächst nur skurril wirkt, hat jedoch einen geradezu makabren Hintergrund: Bush war nicht nur selbst passionierter Bogenschütze, sondern arbeitete für den Militärgeheimdienst an der Entwicklung von Präzisionswaffen zum „silent killing“ – er hatte somit auch ein berufliches Interesse an dieser Sportart.