Die Zeit und das Kino

Lidokino (4): Tsai Ming-Liangs Film „Bu Sun“ spielt in einem alten Kino Taipehs und ist eine melancholische Hommage an King Hus Martial-Arts-Film „Dragon Inn“ von 1966

Was stört Sie im Kino? Sitznachbarn, die sich gegenseitig die Handlung erklären? Leute, deren Mobiltelefone läuten? Andere, die genau darauf warten, damit sie „imbecile“, „basta“ oder „cuglione“ rufen können? Solche, die beim Gähnen aus dem Mund riechen, oder solche, die ihre Knie gegen Ihre Rückenlehne pressen? Wer meint, der Rahmen eines renommierten Festivals schütze vor solchen Fauxpas, irrt. Denn die im Kino verbrachte Zeit treibt selbst zarte Gemüter zur Rücksichtslosigkeit. Es kommt der Punkt, wo man sich vergisst, wo man gähnt, die Schuhe auszieht und Kekse knabbert.

Umso erfrischender ist es, einen Film zu sehen, der über weite Strecken in einem Kinosaal spielt und in dem die wenigen Zuschauer auf der Leinwand genau das tun, was vor der Leinwand stört. Kaum werfen sie ihre nackten Füße über die Rückenlehne der vor ihnen liegenden Sitzreihe, kaum kauen sie die Erdnüsse besonders geräuschvoll, schon brechen die Journalisten in der Sala Palagalileo in Gelächter aus: Da spricht ihnen der Film aus der Seele! Seltsam nur, dass ich, als ich beiläufig nach links schaue, zwei über die Sitzlehne ragende Füße sehe. Immerhin sind sie nicht nackt. Und immerhin arbeiten die Klimaanlagen in den Sälen so sibirisch gut, dass Gerüche rasch verfliegen. Seit gestern produziert die Anlage in der Sala Palagalileo dabei einen neuen Sound: für jeden Film das passende Hintergrundrauschen.

Der Wettbewerbsbeitrag, von dem die Rede ist, stammt von Tsai Ming-Liang, dem Regisseur von „Der Fluss“ und „What time is it there?“. Er heißt „Bu Sun“ („Good Bye, Dragon Inn“), spielt in einem alten Kino Taipehs und ist eine Hommage an King Hus Martial-Arts-Film „Dragon Inn“ aus dem Jahre 1966. Wie die anderen Filme Tsai Ming-Liangs ist er in langen, statischen Einstellungen gedreht. Oft öffnen sich die Bilder für zwei Räume; am deutlichsten wird dies, wenn man die Schwertkämpfer in Aktion und dazu einen Teil des Kinosaals sieht. Einmal steht die Kartenabreißerin in einem Türrahmen links der Leinwand, während rechts von ihr der Film läuft.

Auch in weniger offensichtlichen Konstellationen arbeitet Tsai Ming-Liang mit dem zweiten Raum, etwa wenn die Kamera lange auf einem Gang verweilt, an dessen rechter Wand sich die Tür zu einer Kammer öffnet, in der sich die Kartenabreißerin befindet. Oder wenn am Ende dieses langen Ganges ein Séparée im Neonlicht leuchtet, von Balken eingerahmt wie von einem zweiten Frame in der Tiefe des Bildes.

Dort, in der Tiefe der Bilder, leuchtet fast immer eine Lichtquelle: grün, weiß, rötlich, als käme sie aus einer anderen Dimension. Indem sich die Bilder in zwei Räume teilen, schaffen sie sich ein Jenseits. Das passt zu Tsai Ming-Liangs zentralem Sujet: der Gegenwart des Todes, der Melancholie, der Zeit, die vergangen und dennoch anwesend ist.

In „What time is it there?“ wird die Gegenwart an die Zeit des toten Vaters angepasst, in „Bu Sun“ an die Zeit von King Hus „Dragon Inn“. Damals waren die Kinos voll, die Darsteller jung, heute sind sie alte Männer, die als Geister ihrer selbst die letzte Vorstellung besuchen. Einer der beiden wird von Miao Tien gespielt, der in „Der Fluss“ und „What time is it there?“ die Figur des Vaters gab. In „Dragon Inn“ war er einer der jungen Schwertkämpfer, genauso wie Shih Chun. Ihm treten die Tränen in die Augen, sobald er sich selbst als jungen Mann auf der Leinwand erblickt.

Am Ende begegnet er Miao Tien und klagt: „Niemand geht mehr ins Kino.“ Es ist wohl kein Zufall, wenn Yao Lee, eine populäre Sängerin aus dem Hongkong der 60er, zum Abspann singt: „So much of the past lingers in my heart.“ CRISTINA NORD