„Wir sperren zu viele Leute ins Gefängnis“, sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer

Sollen Täter, die möglicherweise rückfällig werden, für immer hinter Gitter in Sicherungsverwahrung?

taz: Seit 1933 gibt es im deutschen Strafrecht die Sicherungsverwahrung. Ein potenzieller Rückfalltäter bleibt auch nach Verbüßung der Strafe im Gefängnis. Brauchen wir solche Gesetze aus der NS-Zeit?

Christian Pfeiffer: Die Sicherungsverwahrung enthält kein typisches NS-Gedankengut. Hier geht es um gefährliche Menschen, die nicht entlassen werden sollten. Das ist gerade in der Demokratie ein legitimes Ziel.

Woher weiß man, ob ein Täter auch nach der Strafverbüßung gefährlich ist?

Man kann nur prognostizieren – anhand der bisherigen Taten und anhand fachkundiger Gutachten. Aber ein Rest Unsicherheit bleibt immer.

Der Psychiater Norbert Leygraf hat diese Unsicherheit auf den Punkt gebracht: „Man muss mindestens zehn Menschen unnötig einsperren, um auch einen wirklich gefährlichen festzuhalten.“ Muss das so sein?

Wenn es so wäre, hielte ich das im Rechtsstaat für unzulässig.

Welches Verhältnis würden Sie noch akzeptieren?

Wenn jeder Zweite unnötig in Sicherungsverwahrung kommt, fände ich das schon sehr viel. Aber solche Rechnungen sind kaum mehr als Gedankenspiele.

Würden Sie im Zweifel pro Sicherheit oder pro Freiheit entscheiden?

Bei Tätern, die als hochgefährlich eingestuft werden: pro Sicherheit.

In den letzten Jahren hat die Gesetzgebung die Sicherungsverwahrung ausgeweitet, um vermeintliche Lücken zu schließen. War das in Ihrem Sinne?

Nein, und zwar vor allem, weil mir das Verfahren nicht behagt. Da hat die Politik auf spektakuläre Einzelfälle sofort mit neuen Gesetzen reagiert, ohne gründlich zu untersuchen, ob man sie überhaupt braucht und ob sie sinnvoll sind. Das ist keine rationale Kriminalpolitik, sondern Populismus.

Ist es nicht wichtig, der Bevölkerung das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln?

Natürlich. Aber es dürfen keine Illusionen geschürt werden, es kann keine absolute Sicherheit geben. Man kann auch das Strafrecht nicht nach jedem brutalen Mord aus symbolischen Gründen erneut verschärfen.

Mit den jüngsten Verschärfungen beschäftigt sich jetzt ja auch Karlsruhe. Beispiel: Früher mussten Täter nach Strafverbüßung entlassen werden, wenn die fortdauernde Gefährlichkeit erst in der Haft auffiel, z. B. weil der Täter eine Therapie verweigerte. Jetzt kann in einigen Bundesländern die Sicherungsverwahrung auch noch kurz vor der Entlassung angeordnet werden …

Auch das halte ich für einen untauglichen Schnellschuss.

Warum?

Die Gefangenen können sich auf diese Gesetze einstellen und haben das bereits getan. Inzwischen werden von ihnen kaum noch Therapien verweigert, weil man weiß, dass dies zur Sicherungsverwahrung führen kann.

Ist doch gut, wenn die Gefangenen eher bereit sind, sich therapieren zu lassen …

Eine Therapie macht wenig Sinn, wenn diese nur aus strategischem Kalkül begonnen wird.

Aber Schaden richten solche Gesetze ja auch nicht an, oder?

Sie vergeuden die Zeit der Therapeuten und der Gerichte.

Karlsruhe entscheidet auch über den Wegfall der 10-Jahres-Frist. Früher konnte Sicherungsverwahrung bei der ersten Anordnung nur für 10 Jahre verhängt werden. Jetzt ist sofort dauerhaftes Wegsperren möglich. Sind Sie damit einverstanden?

Auch das war ein Schuss aus der Hüfte. Der Passus wurde 1997 erst kurz vor Ende einer Gesetzesberatung eingefügt. Niemand hat ernsthaft geprüft, ob eine Verlängerung der Frist auf 15 Jahre nicht auch genügt hätte.

Verstößt es gegen die Menschenwürde, wenn ein Mensch in der Sicherungsverwahrung bis zum Tod weggesperrt wird? Bei lebenslänglichen Strafen hat Karlsruhe ja betont, dass jeder Gefangene die Aussicht haben muss, noch vor dem Tod in Freiheit zu kommen.

Möglicherweise genügt bei der Sicherungsverwahrung bereits die jetzige Regelung, wonach die Gefährlichkeit alle 2 Jahre überprüft werden muss. Alte Männer können so doch noch entlassen werden.

Die Zahl der Sicherungsverwahrten hat sich seit 1995 fast verdoppelt. Ist das bedenklich?

Es sind jetzt 300 Personen, das ist im Vergleich zu rund 60.000 Strafgefangenen immer noch recht moderat. Für problematischer halte ich, dass immer mehr Menschen im Strafvollzug sitzen. So hat sich in Westdeutschland die Zahl der Inhaftierten seit Anfang der 90er-Jahre um 34 Prozent erhöht – obwohl die Kriminalität nur um 9 Prozent gestiegen ist und Raubtaten, Einbrüche und Vergewaltigungen sogar zurückgehen.

Da wird der Sparzwang der Länder vermutlich bald zu einem Umdenken führen …

Ich fürchte, nein. Die Länder bauen gerade 12.000 neue Haftplätze und niemand stellt das in Frage. Lieber spart man bei Kindergärten, Schulen und Universitäten. Wenn wir nicht aufpassen, wird es uns gehen wie Arnold Schwarzenegger. Der muss in Kalifornien auch die Ausgaben für Bildung drastisch streichen, weil die Kosten für den Strafvollzug viel zu hoch sind.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH