Und der Engel sprach: „Schließe das Verdeck deines Cabrios“

Bei einem Kongress in Hamburg trafen die Auserwählten, denen sich die Boten Gottes ohne weiteres mitteilen, auf das Fußvolk, dass für solche Begegnungen ölhaltige Essenzen bemühen muss. Flammenflügel und Schwerter sind definitiv out, dafür wird Gott zu „der Quelle“, und der Weltfrieden ist ein warmes Gefühl im Bauch

Virtue, so heißt es, komme aus einer hellseherisch begabten Familie und habe schon als kleines Mädchen die Engel sprechen gehört

von Andrea Mertes

Es war ein Sommertag, als Doreen Virtue nicht mehr ignorieren konnte, dass Engel an ihrer Seite sind. Das Ereignis liegt jetzt elf Jahre zurück und ist ein Standard in den Vorträgen der Amerikanerin geworden. Die Geschichte, die sie zu erzählen hat, funktioniert als ein Beweis über die Existenz von Engeln. Heute allerdings braucht es dieses Beweises nicht. Alle, die ihr zuhören, 1.600 Menschen im größten Hörsaal der Hamburger Universität, dem Audimax, sind sich sicher, dass es Engel gibt. Trotzdem lieben die Zuhörer Geschichten, wie Virtue sie jetzt erzählt. Die blonde Amerikanerin ist das, was man eine Hellseherin nennt. Obwohl die meisten im Saal an Engel glauben, haben sie noch nie einen sprechen hören. Oder gar gesehen. Deshalb ist es doch etwas Besonderes, was da nach den Worten von Doreen Virtue am 15. Juli des Jahres 1995 geschah.

Was passierte, war folgendes: Die Engel sagten Virtue, sie solle das Verdeck ihres Cabrios schließen. Was sie nicht tat. Kurz darauf wurde sie überfallen. Männer bedrohten sie mit einer Waffe und versuchten sie zu entführen. Das Mikrofon in der Hand, das Gesicht in Kino-Größe auf eine Leinwand gebeamt, steht Virtue vor dem ausverkauften Auditorium und sagt: „Die Engel hatten mich vor diesem Überfall gewarnt, aber ich hatte nicht auf sie gehört und verlor deshalb fast mein Leben. Das war das letzte Mal, dass ich meine Engel ignoriert habe.“

Sie sieht aus wie ein erwachsenes Hippie-Mädchen, in ihrem bodenlangen Blumenkleid und mit der großen Silberspange um den Hals, zwei Engelsflügel umfassen ein Herz. Ihre Haare sind so lang und glatt und blond wie auf Bildern der Flower-Power-Bewegung. Doch hier spricht kein Überbleibsel des New Age, keine versponnene Selbstdarstellerin. Doreen Virtue, eine promovierte Psychologin und Familientherapeutin, gehört zu den erfolgreichsten Buchautoren einer Szene, die sich mit der Existenz von Engeln beschäftigt. Sie gibt weltweit Workshops über die Heilkraft der Engel, auch „Angeltherapy“ genannt. Und sie ist der Star des deutschlandweit ersten Engelkongresses in Hamburg.

Einen Engelkongress muss man sich zunächst einmal ohne Flügel vorstellen. Auch Flammenschwerter waren nicht zu sehen. Stattdessen prüften die Ordner einfach anhand der weißen Bändchen die Zugangsberechtigung der Teilnehmer, die zwischen 150 und 250 Euro für den zweitägigen Kongress gezahlt hatten. Dafür bekamen sie Vorträge von acht Referentinnen zu hören, es gab ein Konzert, Signierstunden und sehr viele Verkaufsstände. Das Engel-Merchandising funktioniert wie auf allen Volksfesten, Konzerten und Märkten: Fliegende Händler verkaufen Schmuck, Bücher und Nippes. Wer eine Engel-Aura-Essenz kauft, erwirbt damit ein spirituelles Hilfsmittel, mit dem er die Engel hören kann. Warum die einen dafür Bücher, Karten-Decks und Öle brauchen, und andere, wie Doreen Virtue, einfach so einen kleinen Plausch mit Erzengel Michael halten können: Das ist wohl Schicksal. Virtue, so heißt es, komme aus einer hellseherisch begabten Familie und hätte schon als kleines Mädchen die Engel sprechen gehört.

Wer weniger weit fortgeschritten ist, kauft eben Orakelkarten. Oder lässt sich ein Buch signieren. Es sind Menschen aus der bürgerlichen Schicht, die in den Pausen die Stände bevölkern, mehrheitlich weiblich, oft gut gekleidet, Frauen mit sorgfältigem Make-up und Männer mit Hemd und Jackett. Engel sind ein Thema aus der Mitte der Gesellschaft. Und Veranstalter Jürgen Lipp, Inhaber der Wrage Buchhandlung, einem der ältesten Anbieter auf dem Esoterik-Markt, hätte noch viel mehr Eintrittskarten verkaufen können: „Ich schätze, dass 40 Prozent der Deutschen an Engel glauben“, sagt er. Weshalb er im kommenden Jahr den zweiten Kongress veranstalten will. Dass die Referentinnen während der Vorträge auf ihre Öle und Bücher verweisen, dass an diesem Wochenende eine konsumfreudige Atmosphäre entsteht, in der nicht unbedingt auf den Preis geachtet wird, weil mit dem Kauf eines Artikels auch eine bestimmte Heilserwartung verbunden ist, liegt in der Natur der Sache: „Esoterik ist immer schon ein Stück Business gewesen“, sagt Lipp.

Tatsächlich hat die Esoterik mit dem Thema Engel eine Nische am Markt für sich erobert. Esoterik der alten Schule, das meint Dinge wie Geist-Channeling, Schamanismus oder Aura-Fotografie. Für spirituelle Laien eine fremde Welt. Engel dagegen sind Teil der Alltagskultur. So wie Weihnachten mit dem Rauschgoldengel verbunden ist und die Helfer des ADAC im Volksmund „Gelbe Engel“ heißen, so vertraut kommen Namen wie Erzengel Michael über die Lippen. Wobei auf dem Kongress stets betont wird, dass Engel nicht mit einer bestimmten Religion gleichzusetzen sind. Tatsächlich kennen die großen Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam Engel. Natürlich, so die esoterische Erklärung, denn die Botschaft der Engel ist universeller als jede Kirche. Auch die Definition von Gott entzieht sich einer theologischen Diskussion. Gott ist die „Quelle“, die Engel sind seine Botschafter. Namen haben sie dagegen schon, und diese Namen klingen nach guten alten Bekannten: Michael, Raphael und Gabriel tauchen immer wieder auf, drei Erzengel. Gabriel ist übrigens eine „sie“. Ein paar Erkenntnisse haben die Engelfreunde den Kirchen scheinbar voraus.

Es ist eine neue Form der Volksfrömmigkeit, die so entsteht. Einmal mehr zeigt sich, dass der Rückzug aus kirchlichen Traditionen nicht gleichzeitig die Aufgabe von Glauben bedeutet. Das Bedürfnis, eine Antwort darauf zu finden, warum es diese Welt gibt, besteht fort. Auf der Suche nach einem übergeordneten Sinn findet nur eine Verlagerung statt. Fort von den Dogmen der Kirche, aber auch fort von einer theologischen Diskussion, deren Intellektualität und Vielschichtigkeit sich dem Laien entzieht.

Lasst das Gefühl regieren, lautet das Credo des Engel-Kongresses. Immer wiederkehrende Stichworte sind: Liebe, Herz, Licht, Wärme. Friede ist ein warmes Gefühl im Bauch. Bloß nicht die Vernunft, jenes kalte Skalpell, das jedes unmittelbare Erleben auf den Seziertisch bringt. Das ist antiaufklärerisch? Aber sicher. Doch die Errungenschaften der Aufklärung sind sowieso nicht en vogue. Wäre es so, würde im Fitnessstudio nicht Mantra-Singen angeboten oder in der Volkshochschule Kurse im ayurvedischem Kochen.

Und so schließen die 1.600 Teilnehmer im Hamburger Audimax die Augen und setzen sich aufrecht auf ihren engen studentischen Klappstühlen zurecht. Die Hände ruhen mit den Handflächen nach oben auf der Höhe der Oberschenkel. Das, so wird ihnen erklärt, fördert den Kontakt mit den Engeln. Der Raum ist voll von Engeln, sagt Doreen Virtue, die Einzige, die sehen kann, was die anderen glauben müssen. Und Virtue sieht noch viel mehr: „Über einem großen Teil von Europa liegt eine Schicht des Leids, wie eine Decke. Lasst uns gemeinsam die Decke hochheben. Für Europa soll von hier aus Heilung ausgehen.“ Ein großes Versprechen, eine kleine Geste: eins, zwei , drei, vier, die Teilnehmer konzentrieren sich, lüften die Decke und befreien das Land. So einfach geht Weltfrieden. Und wer wollte da Zweifel haben, wenn ihm Führungspersönlichkeit und eine besondere Aura attestiert wird?

Und wer doch noch einen Beweis braucht, erinnere sich des Schlüsselerlebnisses der Doreen Virtue, damals, an jenem 15. Juli 1995. Als die bewaffneten Männer vor ihr standen, hat sie den Engeln zugehört. „Schrei, so laut du kannst“, hieß deren Botschaft.

Das hat Virtue dann auch getan. Und die Angreifer in die Flucht geschlagen.